Verliebte Kannibalen
Wer bislang noch Zweifel an der Starqualität von Timothée Chalamet hatte, wurde in Venedig eines Besseren belehrt. Niemand wurde auf dem Lido derart umjubelt wie der 26jährige Amerikaner. Mit Luca Guadagninos Film „Call Me By Your Name“ gelang ihm 2017 der Durchbruch, und innerhalb weniger Jahre avancierte er zu einem der gefragtesten Schauspieler seiner Generation. In Venedig postete er ein Bild mit dem Regisseur und schrieb dazu: „Der Mann, der mein Leben verändert hat“. Zur Premiere trug Timothée Chalamet eine ausgefallene Kombination aus Einteiler und Abendkleid. Als er damit über den Roten Teppich ging, kannte die Begeisterung der Fans keine Grenzen mehr. „Chalamet Superstar“ titelte die italienische Presse.
Chalamet spielt wieder eine Hauptrolle in Luca Guadagninos neuem Werk „Bones and All“ (Knochen und alles), einem verstörenden Road-Movie, das auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis basiert. Die Protagonisten sind zwei Teenager im Amerika der 1980er Jahre. Die 18jährige Maren (Taylor Russell) wird von ihrem Vater verlassen, weil er ihre kannibalistischen Neigungen nicht mehr ertragen kann. Allein auf sich gestellt, macht sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Unterwegs begegnet sie dem sinistren Sully (Mark Rylance), der ihr die Augen für ihre kannibalistische Natur öffnet. Später trifft sie auf Lee (Timothée Chalamet), der gleichermaßen veranlagt ist. Er will zurück zu seiner Schwester in Kentucky, von wo er nach einem gewalttätigen Streit mit seinem Vater geflohen ist.
Zwei verlorene Seelen durchstreifen ein trostloses und bedrohliches Amerika auf der Suche nach einer Heimat. Ihren Kannibalismus kann man als Metapher für ihre Andersartigkeit und Marginalisierung verstehen. Dabei gelingt Regisseur Guadagnino eine subtile Gratwanderung zwischen einer spezifischen Spielart des Horror Genres und einer einfühlsamen Liebesgeschichte.
Im Garten
Der renommierte Dokumentarfilmer FrederickWiseman präsentierte im Wettbewerb seinen ersten fiktionalen Film, „Un couple“ (Ein Paar), eine Art literarischen Experimentalfilm. Vor einer unbeweglichen Kamera liest die französische Schauspielerin Nathalie Boutefeu aus den Briefen von Sofia an ihren Mann Lew Tolstoi. Im Alter von 18 Jahren hat sie den berühmten Schriftsteller geheiratet, fast 50 Jahre hat sie an seiner Seite verbracht und 13 Kinder geboren. Sie schrieb seine Manuskripte ab und kümmerte sich um den Haushalt. Die Ehe verlief alles andere als harmonisch, Sofia litt unter den Affären ihres Mannes wie auch unter seiner Eifersucht.
„Das Bewusstsein, einem Genie zu dienen, gab mir Kraft zu allem,“ schreibt sie an einer Stelle. Die Lektüre der Briefe und Tagebuchaufzeichnungen wird immer wieder unterbrochen durch Bilder der Klippen und Gärten der Insel Belle-Île vor der bretonischen Küste. Die schroffen Felsen wie auch die Blütenpracht werden zu einer Art Echo der Natur auf die extremen Gefühlslagen von Sofia und Lew Tolstoi. Eine komplizierte Mischung aus Liebe und Schmerz scheint das Paar unzertrennlich zu verbinden. Im Angesicht dieser Gefühlsaufwallungen strahlt Wisemans Film eine meditative Ruhe aus.
Auch für den Amerikaner Paul Schrader gab es in Venedig einen Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Berühmt wurde er mit dem Drehbuch für Taxi Driver“ (1976). Der heute 78jährige Autor und Regisseur arbeitet nach wie vor unermüdlich. Im vergangenen Jahr war sein Film „The Card Counter“ einer der Höhepunkte in Venedig. Jetzt zeigte er außerhalb des Wettbewerbs sein neues Werk „Master Gardener“ (Meistergärtner). Joel Edgerton spielt Narvel Roth, einen Mann mit einer traumatischen Vergangenheit, der den Garten eines großen Anwesens pflegt und mit dessen Besitzerin Norma (Sigourney Weaver) eine ungewöhnliche Beziehung unterhält. Als deren Großnichte Maya (Quintessa Swindell) eine Lehre im Garten beginnt, löst sie eine dramatische Kettenreaktion aus. Zwischen dem Meistergärtner und der jungen schwarzen Frau kommt es zu einer vorsichtigen Annäherung. Nach und nach erfährt man, dass Narvel eine Vorgeschichte als rassistischer weißer Neonazi hat und jetzt als Kronzeuge mit neuer Identität in einem Zeugenschutzprogramm lebt.
Die Fülle und Schönheit des blühenden Gartens stehen in scharfem Kontrast zu den Momenten der Gewalt, die in Rückblenden aufblitzen. Wie oft in den Filmen von Paul Schrader geht es um einen einsamen Mann, der von den Albträumen seiner Vergangenheit gequält wird. „Ich wollte einen üblen Typ in einen Garten stellen und sehen, ob er dort so etwas wie Erlösung finden kann,“ sagt der Regisseur in der Pressekonferenz. Anders als in seinen früheren Filmen ist das Ende nicht von Gewalt geprägt. Vielleicht hat auch Paul Schrader eine Art innerer Ruhe gefunden.