Preis der ökumenischen Jury für den britischen Film "Yasmin"

Bericht vom 57. Filmfestival Locarno. Von Charles Martig

Der Film "Yasmin" des britischen Regisseurs Kenny Glenaan ist der Preisträger der ökumenischen Jury am Filmfestival Locarno. Der Preis ist erstmals mit 20´000 Franken dotiert und an die Distribution des Films in der Schweiz gebunden.

Die Jury hat den Film "Yasmin" wegen der überzeugenden Identitätsfindung einer jungen pakistanischen Frau ausgezeichnet: "Durch die Folgen des 11. Septembers aufgerüttelt, findet Yasmin zu ihren kulturellen Wurzeln zurück. Die Wiederentdeckung des Korans bringt eine Glaubenserfahrung mit sich und ermöglicht ihr, sich selber zu finden. Zuversichtlich sucht Yasmin einen Weg, sich zu behaupten – sowohl in der pakistanischen Gemeinschaft wie auch in ihrer westlich geprägten Umgebung", erklärt die Jury in ihrer Begründung. Stilistisch ist "Yasmin" verwandt mit dem Filmschaffen von Ken Loach. Der Film zeichnet vor allem ein lebendiges und berührendes Porträt der Muslime in England und ist trotz der schweren Themen voller Witz und Ironie. Dies ist dem regen Kontakt zwischen den muslimischen Darstellern und den Mitgliedern der Gemeinschaft zu verdanken. Der intensive Erfahrungsaustausch hat dem Film einen hohen Authentizitätsgrad verliehen. Die Filmequipe wurde während der Dreharbeiten im Oktober 2003 in die pakistanische Gemeinschaft aufgenommen, und es gelang ihr, deren Atmosphäre im Film sehr nahe am Alltagsleben der Pakistani wiederzugeben.

Der Preis ist zum ersten Mal mit 20´000 Franken dotiert und an die Filmdistribution in der Schweiz gebunden. Das Preisgeld wird von den evangelisch-reformierten und den römisch-katholischen Kirchen der Schweiz zur Verfügung gestellt. Angesichts der Tatsache, dass viele Filme den Weg vom Filmfestival auf die Kinoleinwand oder ins Fernsehen nicht finden, unterstützt der Preis vor allem Filme, die durch ihr soziales oder politisches Engagement wenig Chancen zur Auswertung haben.

Zudem hat die ökumenische Jury den italienischen Film "Private" mit einer besonderen Erwähnung ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury: "´Private´ zeigt uns das Leben einer palästinensischen Familie, die sich weigert, ihr von israelischen Truppen besetztes Haus zu verlassen. Ihre Weigerung gründet in einer überzeugten, wenngleich paternalistischen Haltung der Gewaltlosigkeit. Das Leben in dieser ‚´geschlossenen Gesellschaft´ beleuchtet die verschiedenen Verhaltensweisen im Alltag der kriegerischen Auseinandersetzung. Der Film setzt ein Zeichen der Hoffnung für unsere heutige Welt." Der italienische Wettbewerbsbeitrag wurde auch mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet.


Starke soziale und politische Standpunkte

Das Festival profiliert sich vor allem mit den Filmen, die sich gesellschaftlichen und politischen Themen zuwenden. Neben den beiden Preisträgern war dies auch beim südafrikanischen Film "Forgiveness" der Fall, der sich der Frage der Versöhnung zwischen einem weissen Ex-Polizisten und einer schwarzen Familie im vielsagenden Ort "Pater noster" zuwendet. Wenn am Schluss die Familie des Opfers mit dem Täter um das Grab versammelt ist, um ein "Vater unser" zu beten, dann gehört dies zu den eindrücklichsten Momenten des Wettbewerbs. Für diese Filme hat das Festival das neue Label "Human Rights Program" lanciert. "Forgiveness" erhielt dabei den erstmals vergebenen Menschenrechtspreis.

Ebenfalls unter dem "Human Rights Program" liefen auf der Piazza Grande zwei Filme mit sehr unterschiedlichen Standpunkten. "Der neunte Tag" ist ein imminent moralischer Film von Volker Schlöndorff. Für die Situation der katholischen Geistlichen im Konzentrationslager Dachau hat der Regisseur eine adäquate Form gefunden, die sich respektvoll dem Leiden nähert und diese Darstellung als subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur Abbé Henri Kremer zu erkennen gibt. Dieser wird für neun Tage aus dem Konzentrationslager entlassen um in seiner Heimatstadt den Bischof von Luxemburg von einer Kooperation mit dem Nationalsozialistischen Regime zu überzeugen. In einem eindrücklichen Kammerspiel erweist sich die Beharrlichkeit des Abbé, der Versuchung zu wiederstehen. Er gibt seinen Standpunkt nicht auf, auch wenn die Sicherheit seiner Familie auf dem Spiel steht. Die herausragenden schauspielerischen Leistungen von Ulrich Matthes, August Diehl und Bibiana Beglau machen den Film zu einem nachhaltigen Erlebnis.

Das Programm der Piazza Grande bot auch mit "Hacala Hasurit – Die syrische Braut" von Eran Riklis einen erhellenden Beitrag zur Situation der Drusen in den Golanhöhen. Eine junge Frau heiratet einen Syrer und verlässt damit definitiv ihre Familie in Israel. Das Hochzeitsfest wird zum eigentlichen Trauerspiel. Was sich dann an der israelisch-syrischen Grenze abspielt ist eine tragikkomische Szene: Die Braut wird aus Israel ausgeschafft und verweilt im Niemandsland, weil die syrischen Grenzbeamten ihren Pass nicht akzeptieren. Allein im weissen Hochzeitskleid vor dem Grenzgitter auf einem Stuhl sitzend: das ist ein starkes und verzweifeltes Bild für eine Leben zwischen den Fronten.


Spirituelle Filme

Der existentiell tiefschürfende Beitrag des Japaners Jun Ichikawa war ein Höhepunkt im Wettbewerb. "Toni Takitani", eine Adaptation des bekannten japanischen Schriftstellers Haruki Murakami, erzählt lakonisch und kongenial von der Hauptfigur Toni, der in der Welt verloren ist und sich zutiefst einsam fühlt. Seine Heirat führt zwar zu glücklichen Momenten, doch die Kaufsucht seiner Frau treibt das Ehepaar in die Vereinsamung. Nachdem Toni seine Frau in einem Verkehrsunfall verliert, klammert er sich an den Hunderten von Kleidern und Schuhen seiner Frau fest. Der absurde Versuch, eine Frau mit derselben Grösse zu engagieren, die die Kleider seiner Ehefrau tragen kann, führt in die Sackgasse. "Toni Takitani" ist eine Meditation über Weltfremdheit und Vereinsamung, über die seltsamen Wege der menschlichen Begierde und ihrem verzweifelten Festhalten an den Erscheinungen der materiellen Welt.

Auch die Semaine de la critique wartete mit zwei überraschenden Dokumentarfilmen auf. "Touch the Sound" von Thomas Riedelsheimer ist geradezu ein spiritueller Film, der sich den sinnlichen und geistigen Dimensionen des Hörens zuwendet. Auf der Reise mit der tauben Musikerin Evelyn Glennie erleben wir als Zuschauer und Zuschauerin, dass Klang nicht nur über das Gehör wahrnehmbar ist. Glennie verkörpert eine Sinnlichkeit des Hörens, die sich wohl am ehesten mit dem sechsten Sinn umschreiben lässt. Staunend sitzt man da im Kino und erlebt die Wunder der bisher kaum erschlossenen Klangwelten. – "Die Blutritter", ebenfalls im Programm der Kritikerwoche, zeigte die Reliquienverehrung eines Bluttropfens Christi in Oberschwaben. Diese Reliquie wird einmal im Jahr aus dem Kloster Weingarten getragen und in Begleitung von 3´000 Reitern auf einer Prozession verehrt. Dazu kommen rund 40´000 Pilger nach Weingarten. Der Film zeichnet nun aber einen sozialen Mikrokosmos, der grosse Nähe zu den Hauptfiguren schafft und in grundlegende Fragen des katholischen Selbstverständnisses eingreift. Da auch Ironie und Witz Platz finden, ist dies mehr als ein ethnographischer Film: nämlich die reichhaltige Welt der Oberschwaben, die ihre Tradition des Blutrittertums als wesentlichen Bestandteil ihrer katholischen Identität verstehen.


Theologie pur: "Notre musique"

Wer hätte gedacht, dass ein moderner Filmschaffender sein Werk in drei Königreiche unterteilt und diese drei Kapitel Hölle, Fegefeuer und Paradies nennt. Jean-Luc Godard legt mit "Notre musique" eine brillante Reflexion über den Krieg, die Wirklichkeit der Bilder, die Literatur und das Kino vor. Der Film wurde bereits am Filmfestival von Cannes uraufgeführt und in Locarno im "Human Rights Program" gezeigt. Die Hölle dauert acht Minuten und besteht aus einer Montage von Kriegsbildern aus verschiedenen Epochen. Auch das Paradies in der Natur ist von kurzer Dauer und erscheint als Epilog zum starken mittleren Teil. Das Fegefeuer ist in Sarajewo angesiedelt. Anlässlich der "Europäischen Buchmesse" erscheint hier Godard selbst zusammen mit fiktiven Personen vor der Kamera, in Gesprächen und Begegnungen, die auf Schuld und Verzeihen Bezug nehmen. Am stärksten wirkt hier die Frage nach der Wirklichkeit der Bilder, ihrer Möglichkeit zur Erinnerung und zur Reflexion. Am Schluss wird der Mythos vom Paradies dekonstruiert: Die verstorbene Olga, die am Ende des Fegefeuers als vermeintliche Terroristin gestorben ist, verzehrt am Ufer eines Sees einen Apfel mit einer zufälligen Bekanntschaft. Das Paradies wird von amerikanischen Marinesoldaten bewacht. So wird die Paradiesgeschichte in einer umgekehrten Spiegelung zu einer Irritation, die Fragen an die christlich-fundamentalistische Legitimation der Kriegsführung stellt, anstatt plakative Antworten zu geben.