Prominente und Marginalisierte

Zum Beginn der 81. Mostra internazoionale d'arte cinematografica in Venedig

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Venedig macht es den Zuschauern leicht, auf dem Festival anzukommen. Die Atmosphäre ist herzlicher und demokratischer als in Cannes oder Berlin. Venedig ist ein Publikumsfestival mit erschwinglichen Eintrittspreisen, für Studenten und Rentner gibt es günstige Akkreditierungen. Auf dem Lido sitzt man in einem improvisierten Café unter Bäumen, trinkt Cappucino und Spritz.

Diskret und elegant leitet Alberto Barbera seit 2011 (und vorher bereits 1998-2002) die Mostra D’Arte Cinematográfica und hat auch in diesem Jahr wieder eine hochklassige Filmauswahl zusammengestellt. Nachdem wegen des Schauspielerstreiks im vergangenen Jahr kaum ein Hollywood Star nach Venedig gekommen war, lockt das Festival diesmal mit einer Fülle prominenter Namen, von Cate Blanchett, Nicole Kidman, Angelina Jolie und Julianne Moore bis Jude Law, Kevin Kline, George Clooney und Brad Pitt.

Der Eröffnungsfilm, Tim Burtons Remake seines eigenen Klassikers „Beetlejuice”, vereint den Cast von vor 36 Jahren, Michael Keaton, Willem Dafoe und Winona Ryder, bringt ansonsten wenig Neues, aber verdoppelt den Titel zu „Beetlejuice – Beetlejuice“. Doch es war Sigourney Weaver, die mit einem Ehrenlöwen ausgezeichnet wurde und dem Abend den nötigen Glamour verlieh.

Mit Spannung wurde Pablo Larrains Callas Portrait „Maria“ erwartet“. Larrain, der vor Jahren interessante Filme in Chile gemacht hat, konzentriert sich in letzter Zeit auf weibliche Celebrities des 20. Jahrhunderts. Nach „Jackie“ mit Natalie Portman als Kennedy Witwe, „Spencer“ mit Kristen Stewart Lady Diana ist er jetzt bei Maria Callas angekommen, in der Titelrolle Angelina Jolie als tragisch umflorte Diva in den letzten Wochen ihres Lebens. Traumverloren und nostalgisch streift sie durch ein herbstliches, sepia-coloriertes Paris, begleitet von einem Kamerateam und Interviewer (Kodie Smit-McPhee).

© Biennale Cinema 2024


In schwarz-weißen Rückblenden sehen wir die junge Maria, arm und mit noch rundlicher Figur, wie sie im Athen der 1940er Jahre für deutsche Besatzungsoffiziere singt. 1949 verfolgen wir ihren künstlerischen Durchbruch in Teatro La Fenice von Venedig und den anschließenden Aufstieg zum umjubelten Star auf den Opernbühnen der Welt. Natürlich darf auch Aristoteles Onassis nicht fehlen, mit obligatorischer Brille und Zigarre wird er schmeichelhaft von dem türkischen Star Haluk Bilginer verkörpert. Wie auch Maria spricht er ein überraschend akzentfreies Englisch. Obwohl er ihr zu singen verboten hatte, sich weigerte, sie zu heiraten und schon zu Kennedys Lebzeiten Jackie angebaggert hatte, sitzt Maria hingebungsvoll an seinem Sterbebett.

Die kranke Diva, die seit vier Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden hat, ist auf der Suche nach ihrer verlorenen Stimme, wobei sie Herz und Leber übermäßig strapaziert. Selbst die Zuwendung ihres aufopferungsvollen Butlers (Pierfrancesco Favino) und der treusorgenden Haushälterin Bruna (Alba Rohrwacher mit grauer Perücke) können das grausame Schicksal nicht aufhalten. Wie die tuberkulöse Traviata findet sie mit 53 Jahren einen frühen Tod.

„Die Oper ist mein Leben“ sagt sie dem Arzt, der sie ermahnt, auf ihre Gesundheit zu achten und vernünftig zu sein. „Die Oper ist nicht vernünftig!“ Oper, das ist für den Regisseur vor allem eine Abfolge ‚großer‘ Arien. So schließt sich der Kreis von Pablo Larrains Frauen Trilogie, die man sich als ein überdimensionales „Gala“-Heft für Filmkunst- und Opernliebhaber vorstellen darf.

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Bescheidener und eindrucksvoller fällt dagegen „Nonostante“ (Feeling Better) aus, die zweite Regiearbeit von Valerio Mastandrea, einem prägenden Schauspieler des zeitgenössischen italienischen Kinos. Der Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Orrizonti“ ist eine poetische Meditation über Gesundheit und Depression, über Resignation und Hoffnung. Mastandrea spielt einen Koma-Patienten in einer Abteilung eines römischen Krankenhauses, dessen Ich sich von seinem siechen Leib gelöst hat und durch die Räume und nähere Umgebung streift - wie andere seinesgleichen auch. Als eines Tages eine neue, ebenfalls komatöse Patientin (Dolores Fonzi) auftaucht und sein angestammtes Zimmer übernimmt, wird er aus seiner resignativen Routine gerissen und entdeckt längst verschüttete Gefühle. „Nonostante“ ist mit ironischer Leichtigkeit wie ein Traum inszeniert, vieles wird angerissen und bleibt rätselhaft wie auch die vorsichtige Liebesgeschichte.

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In den letzten Jahren hat Venedig vermehrt Dokumentarfilme ins Programm genommen. Eindrucksvoller Auftakt war in diesem Jahr „Separated“ (Getrennt) von Errol Morris. Der renommierte Dokumentarfilmer beschäftigt sich mit der skandalösen Praxis, dass an der amerikanisch-mexikanischen Grenze die Kinder illegaler Einwanderer von ihren Eltern getrennt werden. Offiziell von der Trump-Adminstration geleugnet, dokumentiert der Film mit zahlreichen Insider-Interviews die Details einer menschenverachtenden Politik, die darauf angelegt ist, Einwanderer abzuschrecken. Obwohl dank massiver öffentlicher Proteste diese Praxis korrigiert wurde, kam es auch unter Präsident Biden nicht zu einer rechtlichen Neuregelung. Im Gegenteil, die Debatte um illegale Einwanderung ist zu einem zentralen Wahlkampfthema geworden, und auch Kamala Harris verspricht eine harte Politik „tough on immigration“.

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Ein weiterer Höhepunkt der ersten Tage war der Dokumentarfilm „One to One: John & Yoko“ von Kevin Macdonald. Wenn man glaubt, alles über seine Post-Beatles-Zeit in New York zu wissen, wird man überrascht, einen charismatischen und politisch radikalen John Lennon zu entdecken. Kevin Macdonald dokumentiert das einzige und letzte Konzert der beiden in New York City. Darüber hinaus entwirft er ein breites Panorama der politischen Verhältnisse im Amerika der frühen 70er Jahre: Watergate und Richard Nixons Wahlsieg 1972, Ex-Gouverneur George Wallace als Vorläufer von Donald Trump, die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Hoffnungen auf eine radikale Widerstandsbewegung, die von John Lennon unterstützt wurde.

John und Yoko wohnten zuerst in einem kleinen Apartment im West Village, das zu Treffpunkt der linken Nonkonformisten wie Jerry Rubin und Alan Ginsberg wurde. Die beiden sind begeisterte TV-Zuschauer und treten in verschiedenen Diskussionssendungen auf. Der Film zappt auf höchst amüsante Weise durch die damals aktuellen amerikanischen TV-Programme, die zu Seismographen des Zeitgeistes werden. John Lennons emblematischer Anti-Kriegs-Song „Give Peace a Chance“ weckt wehmütige Erinnerungen an den kollektiven Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Ein Widerstand, den man heute vermisst, wenn Begriffe wie Aufrüstung und ‚Kriegstauglichkeit‘ wieder in Mode kommen.