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Serien wirken auf einem Filmfestival wie ein Fremdkörper, wie Aliens aus der banalen Welt des Fernsehens. Doch in den letzten Jahren haben sich die Wahrnehmung und die Wertschätzung von Serien grundlegend geändert. Es gibt weniger Berührungsängste, immer mehr prominente Schauspieler und renommierte Regisseuren beteiligen sich an Serien. Venedig hat in diesem Jahr das Experiment gewagt, vier sogenannte Miniserien (mit einer Laufzeit zwischen sechs und acht Stunden) im offiziellen Programm (Out of Competition) zu platzieren. Was hier zu sehen war, gehörte zu den Höhepunkten des Festivals.

Der Mexikaner Alfonso Cuarón war schon häufig mit seinen Filmen nach Venedig eingeladen. Mit „Gravity“ eröffnete er 2013 das Festival, zuletzt gewann er 2018 mit „Roma“ den Goldenen Löwen und später mehrere Oscars. Wenn ein erfolgreicher Filmregisseur wie Cuarón eine Serie macht, darf man gespannt sein. „Ich weiß gar nicht, wie man für das Fernsehen dreht, für mich waren es sieben Filme, die ich gemacht habe“, sagte Cuarón in Venedig.

In "Disclaimer" spielt Cate Blanchett die erfolgreiche Journalistin und Dokumentarfilmerin Catherine Ravenscroft. Sie wird gerade mit einem TV-Preis ausgezeichnet, wohnt in einem stilvoll renovierten Haus in London und ist glücklich verheiratet. Ihr Mann Robert (Sacha Baron Cohen) leitet eine Reihe von Charity-Organisationen, nur ihr Sohn Nicholas (Kodi Smit-McPhee) erfüllt nicht die Erwartungen seiner Eltern, nimmt Drogen, schläft lange und hängt ab. Eines Tages bekommt Catherine anonym einen Roman zugeschickt, der eine belastende Episode aus ihrer Vergangenheit ans Licht bringt. Absender ist der pensionierte Lehrer Stephen Brigstocke (Kevin Kline), der das Manuskript unter den Papieren seiner verstorbenen Frau gefunden hat. In einer Parallelerzählung sehen wir ein jugendliches Paar auf einer Reise durch Europa, ohne die beiden zuordnen zu können.

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Cuarón schneidet die verschiedenen Handlungsstränge gegeneinander, ohne dass sofort klar wird, wie sie miteinander verbunden sind. Dabei springt er chronologisch zwischen der erzählten Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Lange Zeit wissen wir nicht, worum es in dem anonymen Roman überhaupt geht, wir sehen nur, wie Stephen das Buch unauffällig bei Catherines Mann, ihrem Sohn und ihren Kollegen platziert. Die Wirkung ist verheerend und droht Catherines Leben zu zerstören.

Cate Blanchett und Kevin Kline sind brillant in den Hauptrollen, es ist ein Vergnügen, zuzuschauen, wie sie auf einen Showdown zusteuern. Elegant setzt Cuarón eine Off-Stimme ein, mal in der ersten, mal in der dritten Person. „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen“, meinte Cuarón. Genau damit spielt der Film auf raffinierte Weise, mit unserer Wahrnehmung und dem, was wir für die vermeintliche Wahrheit halten.

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Der Spanier Rodrigo Sorogoyen gilt als einer der interessantesten Regisseure des aktuellen spanischen Kinos. Sein letzter Film „As Bestas – Wie wilde Tiere“ (2022) wurde nach der Premiere in Cannes ein internationaler Erfolg und gewann neun spanische Filmpreise. Serien sind nichts Neues für ihn, 2020 drehte er die vielfach ausgezeichnete Polizeiserie „Antidisturbios“. In Venedig präsentierte Sorogoyen „Los Años Nuevos“, 10 Kapitel, die jeweils mit einem Jahr Abstand an Silvester spielen.

Ana und Oscár sind 30 Jahre alt, als sie sich auf einer Silvesterparty kennenlernen. Beide sind nicht glücklich mit ihrem Leben. Ana (Iria del Río) arbeitet in einer Bar und hat eine Stelle in Schottland in Aussicht, Oscár (Francesco Carril) einen stressigen Job als Arzt in der Notaufnahme. Ein Jahr später sehen wir Oscár zu seiner früheren Freundin zurückgekehrt und Ana mit einem neuen Freund. In einem späteren Kapitel kommen die beiden doch noch zusammen und werden ein Paar. Oscár ist extrem misstrauisch, Ana offener und unbefangener. Das führt immer wieder zu heftigem Streit. Ein gemeinsamer Ausflug nach Berlin und eine Nacht in einem Club à la Berghain markieren das Ende ihrer Beziehung. Aber es ist noch nicht das Ende der Geschichte.

© Manolo Pavon


Obwohl nichts Dramatisches geschieht, verfolgt man mit Spannung, wie die Figuren älter werden, wie sie sich verändern, wie sie ihren Weg im Leben suchen. „Wir wollten eine Serie über das normale Leben machen, in der die Figuren so reden wie wir selbst…Über die kleinen Dinge des Lebens, die uns bewegen, interessieren und amüsieren“ sagte Sorogoyen in Venedig.

Alles andere als konventionell ist die Art seiner Inszenierung. Viele Szenen sind in langen Einstellungen gedreht, in denen die Schauspieler authentisch und intensiv agieren. Trotz einer Länge von siebeneinhalb Stunden verfolgt man ihre Geschichte gebannt bis zum Ende.


Benito Mussolini, ursprünglich Chefredakteur einer sozialistischen Zeitung, wurde im 1. Weltkrieg zum glühenden Nationalisten und in den 1920er Jahren zum Begründer des Faschismus. Seine ebenso radikale wie moderne politische Bewegung sollte Europa im 20. Jahrhundert prägen. Ohne Mussolini hätte es Hitler nicht gegeben, ohne den italienischen Faschismus nicht den deutschen Nationalsozialismus. Mussolini war nicht nur das Vorbild für die rechtsradikalen Strömungen in den 20er und 30er Jahren, sein Einfluss wirkt bis heute nach. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kommt aus der neofaschistischen Jugend, auch wenn sie ihre ideologische Herkunft gerne patriotisch tarnt.

Der Mailänder Literaturprofessor Antonio Scurati hat in seinem Dokumentar-Roman „M. Il Figlio del Secolo" (M. Der Sohn des Jahrhunderts), der 2020 auch auf deutsch erschienenen ist, Mussolinis Aufstieg in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg vom politischen Journalisten zum faschistischen Diktator nachgezeichnet.

Jetzt hat der englische Regisseur Joe Wright dieses komplexe historische Panorama verfilmt. Wright vermeidet die Fallstricke konventioneller Historienfilme und entscheidet sich für eine radikale Künstlichkeit. Seine achtteilige Serie wirkt wie ein surreales Theaterstück. Vieles spielt sich im Halbdunkel einer Kulissenarchitektur ab. Regelmäßig wendet sich Mussolini mit direkten Ansprachen an die Zuschauer, ähnlich wie Figuren in Stücken von Shakespeare.


Luca Marinelli ist nicht wiederzuerkennen in der Titelrolle. Er trifft die Gesten und Manierismen Mussolinis, ohne das reale Vorbild zu karikieren. „Ich komme aus einer antifaschistischen Familie und am schwersten fiel es mir, den Widerwillen gegen die Figur Mussolinis zu überwinden“, meinte Marinelli in Venedig. Wie genau der Film den Aufstieg des Faschismus nachzeichnet, hat etwas von einem Lehrstück. Mussolini liefert das historische Vorbild dafür, wie man sich zuerst der Mechanismen der parlamentarischen Demokratie bedient, um sie dann, wenn man an der Macht ist, endgültig abzuschaffen.

Während längere Serien, die sich über mehrere Staffeln erstrecken, vor allem einen Wiedererkennungseffekt erfüllen, haben kürzere Serien wie die oben erwähnten eine stärker zugespitzte Dramaturgie. Sie erlauben Filmemachern, eine epische, aber keine ausufernde Erzählweise. Sie sind keine Alternative zum Kino, sondern eine kreative Ergänzung für Zuschauer mit Geduld und langem Atem.

Information

Festivals

Die INTERFILM-Jury in Venedig 2024 hat den INTERFILM-Preis zur Förderung des interreligiösen Dialogs an "Quiet Life" von Alexandros Avranas verliehen. Der Goldene Löwe ging an "The Room Next Door" von Pedro Almodóvar.