Von der Herrschaft der Bilder

Filme der Berlinale 1998

Festivals mit ihrer Bilder– und Geschichtenfülle erzeugen manchmal den Effekt, daß die Ordnung der Erfahrung auf dem Kopf steht. Das Kino dominiert das Reale, und der feste Boden unter den Füßen wird zum Sprungbrett der Fiktionen. Wenn dazu das Berliner Februarwetter einen falschen Frühling mit echten Frühlingstemperaturen suggeriert, steigert sich noch das Gefühl einer sanften Entrückung. Dabei stolpert der Festivalbesucher über das Mischungsverhältnis von Imagination und Realität, das sich in der Alltagserfahrung unauffällig versteckt. Die nachhaltigsten Filme der diesjährigen Berlinale reflektieren die Grenzen und Grenzverschiebungen zwischen diesen beiden Bereichen – unter anderem am Sujet der Medienerfahrung selbst und ihrem Eindringen in unsere Realitätskonstruktionen.


Mit dem Drehbuch von „Wag The Dog“ (nach einem Roman von Larry Beinhart) ist Barry Levinson der Realität bedenklich nahegekommen. So nahe, daß man darüber den Film beinahe mißverstehen könnte. Zehn Tage vor der Wahl berichten die Medien, daß der Präsident der Vereinigten Staaten eine Schülerin sexuell belästigt haben soll. Als Spezialist für aussichtslose Fälle soll Robert De Niro die Sache aus der Welt schaffen und die Wahlkampagne des Präsidenten retten.  Mit Hilfe eines Hollywoodproduzenten, gespielt von Dustin Hoffman , setzt er eine größere Inszenierung aufs Programm: einen Krieg – mit Albanien, warum nicht? –, dessen medial geschürte nationale Gefühlsaufwallungen die mißliche Affäre in kürzester Frist aus den Nachrichten und aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verdrängen. Und wenn das Studioprodukt Krieg seine eigene politische Logik entfaltet, so müssen eben Hoffman und seine Crew bizarrer Ideenlieferanten ganz einfach das Script weiterschreiben. Eine Kleinigkeit, verglichen mit den Tücken einer „normalen“ Hollywoodproduktion. Stehen doch für diesen Film die Ressourcen des Weißen Hauses, des „mächtigsten Mannes der Welt“, zur Verfügung – auch das ein Medienslogan.

Nach Bill Clintons „Monicagate“ und der jüngsten Irak-Krise liegt es nahe, den Film als eine politische Satire zu sehen: als ob die Politik die Erfindungen der Kinophantasie nur nachbuchstabiert hätte. Er handelt jedoch nicht von den Korridoren der Macht, sondern von den Labyrinthen der Phantasie selbst, die in den Medien nur noch auf sich selbst trifft; eine deformierte Phantasie, die sich mal hysterisch erhitzt, mal paranoisch überall eine gigantische Verschwörung entdeckt. Die Kinoerzählung von der Medienmanipulation offenbart nichts anderes als das „gewöhnliche“ Funktionieren der Medienmaschine, ihrer Wirklichkeit aus zweiter Hand. Das ist in „Wag The Dog“ ein großartiger Witz – und ein bissiger Kommentar auf die Konditionen der politischen Vernunft. Wer hat die bessere Story: das ist die entscheidende Frage. Sie gilt mindestens so weit, wie der Planet Hollywood reicht. So ist für Hoffmans Kinoproduzenten die größte Kränkung, daß er auf seinen „Credit“, auf die Anerkennung für sein „Lebenswerk“ verzichten soll. Die perfekte Täuschung gelingt jedoch nur dann, wenn ihr Urheber in seinem Produkt verschwindet.


Nach Levinsons Film könnte man die Credits fast als das tragische Selbstmißverständnis des amerikanischen Kinos verstehen – als letzten Hinweis auf ein Gemachtsein, das in seinen Produkten möglichst unsichtbar bleiben soll. Der europäische Film hingegen hat den Kult des Künstlers nicht preisgeben wollen, auch wenn seine Präsenz die Kino-Illusion schwächt. Mit Alain Resnais und seinem Film „Das Leben ist ein Chanson“ (On connait la chanson) war im Wettbewerb der Berlinale ein Klassiker des europäischen  Kinos der Autoren vertreten. Für ihn ist die Illusion ein Kind des Klischees, das er durch gesteigerte Künstlichkeit überwindet – und zum Element seines Kino-Universums macht. Das Boulevardstück („Smoking/No Smoking“), der Kitschroman oder das Melodram waren die Genres, die seinen früheren Filmen den Stoff für die Reflexion sozialer und ästhetischer Konventionen lieferten. Diesmal ist es das französische Chanson, das er in populären Zeilen und Motiven seinen Figuren in den Mund und ihren Dialogen in den Weg legt – als ästhetischen Kommentar zu den Emotionen, die sie persönlich zu haben glauben. Und die sich dabei als Präfigurationen jener Lebensform zu erkennen geben, in der sie sich zu Hause fühlen.

Mit den Stimmen von Joséphine Baker und Charles Aznavour, von Gilbert Bécaud oder Edith Piaf, von France Gall, Serge Gainsbourg oder Johnny Hallyday und durch den Mund seiner Figuren läßt Resnais gleichsam musikalische Sprechblasen zu Wort kommen, die sich, nicht anders als der Strom der Assoziationen von James Joyces Leopold Bloom, in unseren Köpfen eingenistet und dabei das Kommando über unsere Gedanken und Äußerungen übernommen haben. Der Stoff des Films, die Täuschungen und Selbsttäuschungen der Liebe, ihr versehentliches Entstehen und vermeintliches Ableben, das Unglück des Ungeliebten und die Gedankenlosigkeit des sicher Geliebten, ist nur eine weitere Variante seiner Konstruktion. Resnais demonstriert die Herrschaft der Zeichen über unser Bewußtsein und der Rollen über unser Verhalten – und bringt dabei das Kunststück zustande, daraus einen ebenso komischen wie eleganten Film zu machen, der uns unsere unergründliche Geistesabwesenheit vor Augen führt.


Wenn die Formeln der populären Kultur bei Resnais die unpersönlichen Regieanweisungen für unser Innenleben darstellen, so sind sie in Neil Jordans „Der Schlächterbursche“ (The Butcher Boy) gerade umgekehrt der Brennstoff, der die subjektive Auflehnung gegen die sozialen Konventionen nährt. Jordan erzählt von einer Kindheit in einem irischen Städtchen der sechziger Jahre. Der zwölfjährige Francie Brady erschafft aus den Helden der Comics und Fernsehserien, aus den Nachrichten, die sich aus der Hysterie des Kalten Kriegs speisen, und aus den Wundern der katholischen Heiligenlegenden seine eigene Welt, die er nur mit seinem Freund und „Blutsbruder“ Joe teilt. Sie ist ein bißchen realer als bloße Phantasie und auf jeden Fall aufregender als ein ständig betrunkener Vater und eine Mutter, die zwischen Backorgien und Selbstmordgedanken immer wieder in die „Werkstatt“, sprich: die Psychiatrie eingeliefert werden muß. Kein Wunder, daß Francie sich lieber an die Gestalten seines Bilderuniversums hält – und an Wunschbilder von Ma und Dad. In der Nachbarin Mrs. Nugent, die die ganze Engstirnigkeit und den Dünkel kleinbürgerlicher Parvenus verkörpert, hat Francie hingegen längst eine Art außerirdischer Hexe, die Personifikation des Bösen, erkannt. Ihr wird er die Zerstörung seiner Kindheit zuschreiben.

Anfangs sieht es nur nach dem Kontrast zwischen ungestümen Kinderspielen und sozialer Tristesse aus. Aber gerade dieser Kontrast, die Differenz von Innen und Außen, ist in Jordans Film suspendiert. Francie erzählt seine eigene Geschichte, als Stimme aus dem Off, die mit seiner Figur auf der Leinwand verschmilzt. Damit wird aus dem sozialen Drama, das der Zuschauer rekonstruieren mag, ein kindlich monströses Heldenleben mit katastrophalem Verlauf, fast nach dem Muster einer Jahrmarktsmoritat, in der Schicksalsschläge mit Schreckenstaten wechseln. Nach dem Verlust der Mutter, die schließlich doch ins Wasser geht, nach dem Tod des Vaters, der an seiner Trunksucht stirbt, nach Visionen von der Jungfrau Maria und Träumen vom nuklearen Weltuntergang bringt Francie die verhaßte Mrs Nugent um – mit dem Handwerkszeug eines Schlächterburschen, zu dem er ausgebildet werden sollte. Und ausgerechnet an dem Tag, als die Stadt das Wunder einer Marienerscheinung und die Heilung von all ihren Gebrechen erwartet. Die Geisterbahn von Francies Bewußtsein überschneidet sich mit der kollektiven Phantasie. Freilich zeichnet Jordans Film, eine eindrucksvolle Umsetzung von Patrick McCabes gleichnamigen Roman, einen von der populären Kultur infizierten Größenwahn, dessen Subjektivität kein Gegenüber mehr kennt. Wobei das Kino – und die Literatur – uns erlauben, diesen Wahn zu verstehen, ohne auf Erklärungen sei’s der Psychologie, sei’s der Sozialwissenschaft zurückgreifen zu müssen.


Bei all ihren Unterschieden zehren die Filme von Levinson, Resnais und Jordan von einem medialen Bewußtsein zweiten Grades, das die Unmittelbarkeit des Filmbildes anzweifelt und schließlich zerstört. Ein dokumentarischer Film aus dem Programm des Internationalen Forums hingegen traut über sechs Stunden lang dem Bild noch die Evidenz eines Zeugnisses zu. Jedes Jahr schafft das Forum Raum für ein Projekt jenseits der normalen Kinodimensionen, für ein Filmereignis eigener Ordnung. Diesmal war es Ron Havilios „Fragments Jerusalem“. Havilio setzt darauf, im Film Bilder für die kollektive Wahrnehmung und Erfahrung zurückgewinnen, vielleicht sogar das kollektive Gedächtnis bereichern oder korrigieren zu können. Er erzählt die Geschichte seiner Familie und zugleich die seiner Stadt, Jerusalems. Er greift dabei auf die Erinnerung an die Familientradition und auf die frühesten fotografischen und filmischen Zeugnisse der Stadt zurück, auf architektonische Spuren wie auf das Material, das er selbst seit Jahren gedreht hat. Im Zentrum steht das Mamila-Viertel vor dem Jaffa-Tor, das nach der Teilung der Stadt im ersten israelisch-arabischen Krieg unbewohnt blieb, nach dem Sechstagekrieg verfiel und schließlich abgerissen wurde. Jahrzehnte lebte die Familie Havilio in diesem Viertel und betrieb eine Süßwarenfabrik.

Jetzt zeugt das Brachland im Zentrum der Stadt von einer Zerrissenheit, die zu überwinden kaum vorstellbar scheint. „Fragments Jerusalem“ bringt ein anderes Bild zurück – das Bild einer Stadt, in der Juden, Moslems und Christen neben- und miteinander lebten. Der älteste Zweig der Havilio-Familie kam bereits nach der spanischen Reconquista nach Palästina; noch heute verständigen sich die älteren Havilios in Ladino, der Sprache der spanischen Juden. Die Familie der Mutter stammt aus Litauen, eine dritte Linie aus dem jugoslawischen Skopje. Dieses „lange“ Gedächtnis relativiert die Gegenwart, ja seine filmische Präsenz tritt unmittelbar neben das konkrete Jetzt. Havilio konstruiert daraus keine politische Utopie. In seinem Vater porträtiert er vielmehr einen überzeugten Zionisten, der zu den Gründungsmitgliedern der Haganah, der jüdischen Befreiungsarmee in Palästina gehörte. Die Politik, so scheint es, bleibt den Kraftlinien der Gegenwart und ihrem Frontverlauf unvermeidlich verhaftet. Die Geschichte enthält ein größeres Versprechen. Wenn der Film eine Hoffnung formuliert, unausgesprochen, so stützt sie sich auf den Geist der Stadt selbst – die, aus Fragmenten, aus einzelnen Bildern und Erzählungen zusammengesetzt, wieder Jerusalem werden soll.

© Karsten Visarius (Erstveröffentlichung: Evangelische Kommentare, 4/1998)