Es gab in diesem Jahr eine Reihe von bemerkenswerten Filmen, die sich mit politischen Themen auseinandersetzten. In seinem Dokudrama „The Order“ zeigt der Australier Justin Kurzel die Anfänge faschistischer Gewalt in Amerika als spannenden Thriller. In den 1980er Jahren terrorisiert eine gut organisierte Bande den amerikanischen Nordwesten mit einer Reihe brutaler Überfälle auf Banken und Geldtransporter. Der FBI-Agent Terry Husk (Jude Law) entdeckt hinter den scheinbar unzusammenhängenden Aktionen ein politisches Muster und bringt sie in Verbindung mit den Aryan Nations, einer fundamentalistisch religiösen Gruppe, die White Supremacy und Xenophobie predigen.
Während ihr Anführer Richard Butler (Victor Slezak) den Weg durch die Institutionen propagiert und darauf vertraut, dass bald Rechtsradikale im Kongress und Senat sitzen werden, spaltet sich eine radikale Gruppe um Bob Matthews (Nicolas Hoult) ab, die den bewaffneten Aufstand fordert. Sie nennen sich „The Order“ und benutzen das Geld aus den Überfällen, um ein Waffenlager anzulegen und den gewaltsamen Umsturz vorzubereiten. Justin Kurzel inszeniert die reale Geschichte, basierend auf dem Sachbuch „The Silent Brotherhood“ von Kevin Flynn und Gary Gerhardt, als ein rasantes Action-Drama.
Jude Law ist großartig als ausgebrannter FBI Agent mit Schnauzbart, den es aus New York in die Berge von Idaho und Washington verschlagen hat, während Nicolas Hoult als überzeugter Ideologe und charismatischer Anführer seine Leute auf die Idee weißer Vorherrschaft einschwört. Wie man im Abspann erfährt, dienten die Aktionen von „The Order“ später als Inspiration für den Anschlag auf das Bundesgebäude in Oklahoma, den Nazi-Aufmarsch in Charlottesville wie auf den Sturm auf das Kapitol am 7. Januar 2021. Im Rückblick kann man sagen, dass Butler wie auch Matthews Recht hatten, beide Strategien sind aufgegangen. Es gibt rechte Gewalt auf der Straße und einen Präsidentschaftskandidaten mit einer latent faschistischen Agenda.
Eine ganz andere Art der Inszenierung wählt der Brasilianer Walter Salles für sein historisches Drama „Ainda estou aqui“ (I’m Still Here). Rio de Janeiro 1971, die Jahre der Militärdiktatur. Wir sehen die Familie von Rubens Paiva, vier Töchter und ein Sohn, am Strand fröhlich Volleyball spielen. Zugleich ahnen wir, dass die Idylle trügerisch sein könnte. Eines Tages tauchen Männer in Lederjacken auf, die Rubens mitnehmen, um „eine Aussage zu hinterlegen“. Er wird nie wieder auftauchen. Rubens Pavia war Kongressabgeordneter der Arbeiter-Partei, hatte einige Jahre im Ausland gelebt und ist aktiv im Widerstand gegen das Militärregime. Auch seine Frau Eunice wird verhaftet, verhört und tagelang in einer fensterlosen Zelle festgehalten.
Auf sich allein gestellt, muss sie sich um ihre fünf Kinder kümmern. Für die Haushälterin reicht das Geld nicht mehr. Unermüdlich forscht Eunice nach dem Verbleib ihres Mannes. Erst in den 1990er Jahren wird sein Tod offiziell bestätigt. Die früher unpolitische Frau studiert mit 48 Jahren Jura und wird zu einer prominenten Menschenrechtsanwältin. Fernanda Torres füllt die Rolle mit überragendem Charisma und galt als Favoritin für den Darstellerpreis.
Walter Salles, der die Familie persönlich kannte und früher mit den Paiva-Kindern spielte, hat sieben Jahre an dem Film gearbeitet. Es war die Zeit von Jair Bolsonaro, der immer wieder seine Bewunderung für die Militärdiktatur äußerte, was dem Projekt eine beunruhigende Aktualität gibt. Als literarische Vorlage diente das Buch des Sohnes, Marcelo Rubens Pavia, der persönlich nach Venedig gekommen war.
Walter Salles große Kunst besteht darin, dass er eine Atmosphäre der Bedrohung entstehen lässt, ohne direkte Gewalt oder Folter zu zeigen. Andeutungen, Gespräche und Geräusche genügen, um eine umfassende Gefahr anzudeuten. Zugleich schafft er mit der Inszenierung der lebensfrohen Familie und ihrer zahlreichen Gäste einen Gegenentwurf zu der mörderischen Gewalt, die das Land beherrscht. Als nach dem Verschwinden des Vaters das Haus verkauft werden muss und die Familie nach Sao Paulo umzieht, findet diese Idylle ein Ende.
Auch in dem französischen Beitrag „Jouer avec le feu“ (Mit dem Feuer spielen) steht eine Familie im Mittelpunkt des Geschehens. Vincent Lindon spielt einen Eisenbahner und alleinerziehenden Vater von zwei halberwachsenen Söhnen. Fus (Benjamin Voisin), der ältere der beiden, bricht eine Ausbildung als Metallarbeiter ab und spielt erfolgreich Fußball, während sein jüngerer Bruder (Stefan Crepon), eher schüchtern und zurückhaltend, sich auf die Schule konzentriert.
Nach einem gewonnenen Fußball-Match sieht Pierre, wie sein Sohn mit einer Gruppe von rechtsradikalen Skinheads feiert. Seine Versuche, Fus zur Rede zu stellen, scheitern. Während Louis die Aufnahmeprüfung auf die Pariser Sorbonne schafft, gleitet sein Bruder immer weiter in die rechtsextreme Szene ab. Für jeden, der selbst Kinder hat, ist es schmerzhaft mitanzusehen, wie alle Bemühungen Pierres, die Familie zusammenzuhalten, erfolglos bleiben.
Der Film der Schwestern Delphine Coulin und Muriel Coulin, die auch das Drehbuch geschrieben haben, basiert auf dem Roman Was es braucht in der Nacht von Laurent Petitmangin, der auch auf deutsch erschienen ist. Schauplatz ist eine deindustrialisierte Region in Lothringen, wo nur noch die Ruinen eines Stahlwerks an die frühere industrielle Größe erinnern. Wer besser verstehen möchte, warum Marine le Pens rechtsradikales Rassemblement National in Frankreich so viel Erfolg hat, sollte sich diesen Film anschauen.
Einer der Höhepunkte des Festivals war der erschütternde Dokumentarfilm „Russians at War“ (Russen im Krieg). Ohne offizielle Erlaubnis begleitet die russisch kanadische Autorin Anastasia Trofimova eine russische Einheit an die Front. Sieben Monate lang dokumentiert sie mit ihrer Kamera den Kriegsalltag von Soldaten eines russischen Infanterie-Bataillons. Ihre Beobachtungen und Interviews ergeben ein ungefiltertes Bild der Realität des Kriegs jenseits der heroischen Propaganda russischer Medien.
Sie trifft auf Soldaten, die einberufen wurden, sich aus patriotischen oder finanziellen Gründen freiwillig gemeldet haben. Allen gemeinsam ist eine tiefe Desillusionierung. „Es ist so verwirrend hier. Ich weiß überhaupt nicht, wofür wir eigentlich kämpfen“, sagt einer von ihnen. Eine Einschätzung, die von vielen seiner Kameraden geteilt wird. Als Anastasia Trofimova die Einheit kennenlernt, sind von 900 Soldaten gerade einmal 300 vom letzten Fronteinsatz zurückgekommen. Besonders beklemmend ist die Sequenz gegen Ende des Films als die Einheit zu einem Angriff in Bakhmut an die Front geschickt wird. Die meisten der Soldaten werden nicht lebend zurückkommen.
Von ukrainischer Seite wurde Trofimovas Film sofort als „russische Propaganda“ geschmäht. Die Produzentin Darya Bassel, deren Film Songs of Slow Burning Earth ebenfalls in Venedig lief, kritisierte das Festival dafür, dass man „Russians at War“ überhaupt eigeladen hatte und warf dem Film eine Verharmlosung („white washing“) der russischen Soldaten vor. Trofimova wies darauf hin, dass sie zeigen wollte, was in der medialen Berichterstattung fehlt, „das menschliche Gesicht derjenigen, die in diesen Krieg verwickelt sind.(...) Normalerweise sehen wir die Perspektive russischer Soldaten nicht. Mir war es wichtig, einen Blick hinter den Nebel des Kriegs (the fog of war) zu werfen und die Tragödie in den Blick zu nehmen, die der Krieg bedeutet, ich wollte die Menschen als Menschen zu zeigen, jenseits von politischen schwarz/weiß Bildern und Kriegspropaganda.“
Nachtrag
Im Anschluss an Venedig ist „Russians at War“ auch nach Toronto eingeladen. Der ukrainische Generalkonsul Oleh Nikolenko rief das Festival auf, den Film nicht zu zeigen und kritisierte die Tatsache, dass der Film durch den Canadian Media Fund subventioniert wurde.