Jacques Champeaux, Mitglied der Ökumenischen Jury, Peter Paul Huth und Karsten Visarius berichten über die Berlinale 2024. Foto: "My Favourite Cake" von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, Preisträger der Ökumenischen Jury im internationalen Wettbewerb.

Artikel in diesem Dossier

Katholizismus, NS-Widerstand und Corona

Berlinale 2024 (1)


Es gab große Vorschusslorbeeren als Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian 2019 die Leitung der Berlinale übernahmen. Vollmundig versprachen sie strukturelle Reformen, das Programm sollte entschlackt, die Konturen des Wettbewerbs und der Nebenreihen geschärft werden. Fünf Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Eine Sektion wie das „Kulinarische Kino“ ist verschwunden, auch die Reihe "Perspektive Deutsches Kino" wurde aufgelöst. Dafür installierte der künstlerische Festivalleiter Carlo Chatrian mit „Encounters“ einen Nebenwettbewerb inclusive eigener Jury, wobei unklar bleibt, wer hier wem begegnen soll. Auch die Reihen „Berlinale Gala“ und „Gala Spezial“ wurden ausgeweitet. Insgesamt zeigte die Berlinale in diesem Jahr 236 Filme (inklusive Kurzfilme) gegenüber 287 im Vorjahr - eine deutliche Verschlankung.

Toxischer Katholizismus

Die Eröffnung mit „Small Things Like These“ (Kleine Dinge wie diese, Irland, Belgien 2024) fiel ziemlich eindrucksvoll aus. Cillian Murphy, Oscar Kandidat für seine Rolle in „Oppenheimer“, spielt den Kohlenhändler Sam Ferguson in einer irischen Kleinstadt der 1980er Jahre. Wir beobachten ihn bei seiner Arbeit, ohne zu wissen, worauf der Film hinauslaufen wird. Allmählich setzen sich einzelne Bilder und Eindrücke zu einem größeren Bild zusammen, wir beginnen, Zusammenhänge zu verstehen. Dabei konzentriert sich die Kamera intensiv auf das Gesicht des Hauptdarstellers. Die Dialoge sind beiläufig und zurückhaltend, fast alles wird über Blicke und Gesten erzählt.


Zu den Kunden des Kohlenhändlers zählen auch die Nonnen der Magdalene Sisters, die sich um „gefallene Mädchen“, d.h. unverheiratete schwangere Frauen kümmern. Im Heim müssen sie unbezahlt in der Wäscherei arbeiten, ihre Kinder werden ihnen nach der Geburt weggenommen. Cillian Murphy spielt den Protagonisten als einen leisen Melancholiker, einen Familienvater mit fünf Töchtern, der in schlaflosen Nächten von Erinnerungen an die Traumata seiner Kindheit heimgesucht wird. Was er im Heim der Magdalene Sisters beobachtet, lässt ihm keine Ruhe. Aber in den 1980er Jahren ist die katholische Kirche in Irland immer noch eine alles beherrschende Institution, mit der man sich besser nicht anlegt. Obwohl ihn seine Frau warnt („These nuns have their fingers in every pie“/die Nonnen haben ihre Finger überall drin), trifft er eine folgenschwere Entscheidung, die sein Leben und das seiner Familie nachhaltig belasten wird.

In der Pressekonferenz beschrieb Cillian Murphy seine Figur als „a Christian man who does a Christian thing in an un-Christian society” (ein Christ, der eine christliche Tat in einer unchristlichen Gesellschaft  begeht).

Den jahrzehntelangen Missbrauch in irischen Mädchenheimen hatte schon Peter Mullan in seinem Film „The Magdalene Sisters“ (Großbritannien, Irland 2002) thematisiert. Auch „Philomena“ von Stephen Frears Großbritannien 2013) behandelt das Trauma einer jungen Mutter, deren Kind zur Adoption an eine ‚christliche‘ Familie weggeben wurde.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der irischen Autorin Claire Keegan, der in Irland ein großer Bestseller war und 2022 im Steidl Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der renommierte Theaterautor Enda Walsh schrieb das Drehbuch, Regie führte der Belgier Tim Mielants, mit dem Cillian Murphy bei der erfolgreichen Serie „Peaky Blinders zusammenarbeitete.


Mit einer anderen Form von toxischem Katholizismus beschäftigen sich Veronica Franz und Severin Fiala in „Des Teufels Bad“ (Österreich, Deutschland 2024). Oberösterreich im 18. Jahrhundert, in einem Dorf zerbricht die jung verheiratete Marie (Anja Plaschg, die auch die Filmmusik komponiert hat) am rauen Alltag an der Seite ihres Mannes. Sie ist ein zartes, romantisches Gemüt, beobachtet lieber die Natur und sammelt Schmetterlinge, anstatt im trüben Teich Karpfen zu fangen. Die Einsamkeit im abgelegenen Haus mitten im Wald macht ihr zunehmend zu schaffen. Die gottesfürchtige Marie wird krank, sie will nicht mehr aufstehen, der Selbstmord eines Dorfbewohners wirft sie endgültig aus der Bahn. Um nicht so zu enden wie er, der kein christliches Begräbnis bekommt und auf den Acker geworfen wird, bringt sie einen Jungen um und beichtet anschließend. Denn als reuige Sünderin darf sie auf himmlische Vergebung hoffen, selbst wenn sie später hingerichtet wird und man ihren Kopf und Körper als Menetekel im Wald aufstellt. Wie man im Abspann erfährt, soll es über 400 Fälle von Frauen gegeben haben, die im 18. Jahrhundert auf diese Weise den Tod suchten.

„Des Teufels Bad“ – der Titel bezieht sich auf eine zeitgenössische Bezeichnung für Melancholie - erzählt von einem dunklen, wenig bekannten Kapital weiblicher Geschichte im Zeitalter der Aufklärung.

Große Namen

Andreas Dresen ist eine Größe im deutschen Kino. Sein neuer Film „In Liebe, Eure Hilde“ war ein Höhepunkt des ersten Berlinale-Wochenendes. Im Mittelpunkt steht die historische Figur Hilde Coppi (Liv Lisa Fries), die zusammen mit ihrem Mann Hans im Widerstand gegen Hitler Funksprüche nach Moskau schickte. Sie ist schwanger, als sie verhaftet wird, und bringt ihr Kind im Gefängnis zur Welt. Ihre Freundesgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen wurde als „Rote Kapelle“ bekannt. Wegen ihrer kommunistischen Überzeugung wurden sie nach dem Krieg im Westen beiseitegeschoben und in der DDR als Helden des Widerstands überhöht.


Andreas Dresen gelingt ein differenziertes Bild junger Menschen, das alle NS-Klischees vermeidet. Er braucht keine Hakenkreuzfahnen, Aufmärsche und Nazi-Uniformen, um die historischen Umstände zu rekonstruieren. Das wurde ihm von Kritikern als inhaltlicher Mangel vorgeworfen, anderen war der Film zu „konventionell“. Ein Todesurteil im Kontext eines Festivals. Doch beide Vorwürfe gehen ins Leere. Dresen und seiner Drehbuchautorin Laila Stieler zeichnen das atmosphärisch dichte Portrait einer mörderischen Zeit, in der Widerstand eine Frage von Leben und Tod ist. „An Hilde Coppi hat mich fasziniert,“ sagt die Autorin, „dass sie so wahnsinnig jung war, als sie in den Widerstand ging. Diese Jugend und dieser Mut, das fand ich anziehend. Zugleich war sie eine sehr fragile, fast ängstliche Erscheinung. Das steht im starken Kontrast zu dem, was sie getan hat. Das fand ich hochinteressant.“

Dabei folgt der Film konsequent der weiblichen Perspektive seiner Protagonistin. Wir sehen und erfahren nur, was Hilde erlebt. Ebenso wenig wie sie erhalten wir keine zusätzlichen Informationen über die anderen Mitglieder der Gruppe oder die Details ihrer Widerstandsaktionen. (Ein prominenter Kritiker hielt diesen Ansatz für ein Manko des Films und wies darauf hin, Hilde Coppi sei schließlich „Kommunistin“ gewesen.) Liv Lisa Fries verkörpert die zentrale Hauptfigur auf eindrucksvolle Weise. Ganz ohne den künstlichen Berliner Dialekt, den man ihr in der Serie „Babylon Berlin“ verordnet hat. Es wirkt wie eine bittere Ironie, dass sich bei Nachforschungen in russischen Archiven herausstellte, dass von allen Funksprüchen der Roten Kapelle nur ein einziger in Moskau angekommen ist.

„In Liebe, Eure Hilde“ wirkt authentischer und näher an seinen Figuren als andere Filme, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt haben. Nach meiner Einschätzung eine der intelligentesten filmischen Annäherungen an die NS-Zeit, die man in Deutschland im Kino gesehen hat.

Auszeit Corona

Über Olivier Assayas braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Er ist ohne Zweifel einer der vielseitigsten und experimentierfreudigsten Regisseure des französischen Gegenwartskinos. Mit „Hors du temps“ (Außerhalb der Zeit, Frankreich 2024) erinnert Assayas auf überraschend heitere Weise an die Zeit des Covid-Lockdowns, die in Frankreich als „confinement“ bezeichnet wurde. Dabei verbindet er autobiographische Reflektionen mit der Geschichte von zwei Brüdern, die sich eingeschlossen im Landhaus der Eltern gegenseitig auf die Nerven gehen. Gedreht hat Assayas übrigens im Landhaus seiner Kindheit, wo er selbst heute lebt.


Paul (Vincent Macaigne) befolgt mit fundamentalistischem Eifer alle Corona-Regeln, bestellt manisch bei Amazon und lässt die Päckchen vier Stunden lang vor der Tür liegen, damit sich, wie er glaubt, die Oberflächenkontamination abbaut. Sein Bruder Etienne (Micha Lescot) ist ein cooler Rock-Kritiker mit einer Vorliebe für Crêpes, der die Frisur seiner Jugend beibehalten hat. Die Corona-Hysterie seines Bruders geht ihm furchtbar auf die Nerven, was zu heftigem Streit und absurden Dialogen führt. Dazu kommen die weiblichen Partnerinnen, die wie die Männer damit beschäftigt sind, ihre alten Beziehungen oder Ehen zu organisieren. Wie es sich für französische Intellektuelle gehört, geizt man nicht mit literarischen und kulturellen Anspielungen, z.B. auf Eloise und Abelard, Racine oder den englischen Maler David Hockney. Ohnehin sehen Haus und Garten aus, als seien sie einem impressionistischen Gemälde von Claude Monet entsprungen. Im Park blühen blaue Feldblumen, das Gras wiegt sich im Wind. Bei Rückblenden in die eigene Jugend wechselt die Szenerie kurzerhand in Schwarz/Weiß. Ein Feel-Good-Movie über die positiven Seiten des Corona Lockdwns – très français.

New York Stories

Berlinale 2024 (2)


Alfonso Ruizpalacios gewann vor sechs Jahren mit seinem Film „Museo“ (Museum) in Berlin den Silbernen Bären und könnte in diesem Jahr könnte wieder zu den Preisträgern zählen. „La Cocina“ (Die Küche, Mexiko, USA 2024) führt uns hinter die Kulissen des High End Restaurants „The Grill“ am Times Square in New York City. In der Küche arbeiten vor allem Mexikaner, die meisten ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Daneben Schwarze, Marokkaner und andere Nationalitäten. Estela (Ana Diaz) ist gerade aus Mexiko gekommen und erwischt durch einen glücklichen Zufall einen Job an der Seite von Pedro (Raúl Briones Carmona), der hier schon seit Jahren arbeitet. Dieser hat eine wilde Affäre mit der amerikanischen Kellnerin Julia (Mara Rooney) und möchte sich mit ihr eine Existenz in Mexiko aufbauen. Als 800 Dollar in der Kasse fehlen, werden alle Angestellten verhört, um den Dieb zu finden. Der Generalverdacht setzt eine Spirale von Gewalt in Bewegung, die in einer heftigen Schlägerei und totalem Chaos endet.

Die schnellen Schnitte und die Schwarz/Weiß Photographie geben dem Film eine Atemlosigkeit, die mit der Hektik der Bestellungen in der Rush Hour am Mittag und Abend korrespondiert. Pedro ist ein erfahrener Koch, aber auch ein durchgeknallter Typ, der seine Kollegen gerne provoziert und beim geringsten Anlass ausrastet. Die schwierige Beziehung zu der weißen Kellnerin Julia trägt nicht gerade zur Beruhigung bei.

Ruizpalacios, der auch das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert die rasanten Dialoge und permanenten Flüche des mexikanischen Küchenteams als Mikrokosmos einer migrantischen Subkultur, die vor den Augen der Restaurantgäste verborgen bleibt. Es tobt ein ständiger Kampf um Selbstbehauptung und Anerkennung in einem System aggressiver Konkurrenz, in dem nur kurze Momente von Solidarität aufscheinen.


Konkurrenz ist auch das zentrale Motiv Aaron Schimberg Body-Horror-Drama „A Different Man“ (USA 2023). Edward (Sebastian Stan) muss sich mit kleinen Rollen durchschlagen, denn er leidet darunter, dass sein Gesicht durch Wucherungen entstellt ist, eine sogenannte Neurofibromatose. Trotzdem gewinnt er die Aufmerksamkeit seiner attraktiven Nachbarin Ingrid, einer norwegischen Nachwuchsautorin (Renate Reinsve). Edward soll die Hauptrolle in ihrem autobiographischen Theaterdebüt spielen, das am Off Broadway aufgeführt wird. Dank einer Gesichtsoperation gewinnt Edward ein normales Aussehen zurück und wird über Nacht ein erfolgreicher Immobilienmakler, der nach wie vor von einer Theaterkarriere träumt. Doch daraus wird nichts, weil die schöne Norwegerin von seinem monströsen Aussehen angezogen war und mit seiner neuen ‚Normalität' nichts anfangen kann.

Aaron Schimberg spart nicht mit New York-Klischees aus der kreativen Szene. Ein Schauspieler, unterwegs von einem frustrierenden Vorsprechen zum nächsten. Er wohnt in einem heruntergekommenen Apartment, wo es durch die Decke tropft, doch er träumt weiter vom Durchbruch am Off Broadway. Bis auf die Elemente von Body Horror eine wenig überzeugende Geschichte, die gegen Ende in Beliebigkeit zerfasert.


Über den dystopischen Thriller „Another End“ (Italien 2024) des Italieners Piero Messina lässt sich ebenfalls wenig Gutes sagen. Auch hier ist das Setting eine moderne Megalopolis, vergleichbar ist auch das Starpotential ist. Selten hat man den Mexikaner Gabriel Garcia Bernal (mit militärischem Kurzhaarschnitt) so blass agieren gesehen. Bei einem selbstverschuldeten Autounfall ist seine Frau (einmal mehr Renate Reinsve) ums Leben gekommen. Gefangen in seiner depressiven Trauer wird ihm von dem futuristischen Unternehmen Aeternum eine utopische Lösung namens „Another End“ angeboten. Die in der Datenbank des Unternehmens gespeicherten Erinnerungen der Verstorbenen werden einem passenden Host eingesetzt, um dem Trauernden Gelegenheit zu geben, noch einmal Abschied zu nehmen.

    Das ist ähnlich wirr inszeniert, wie es sich liest. Mit seiner Schwester (Bérénice Béjo) spricht Garcia Bernal Spanisch, mit Renate Reinsve Englisch. Wir ahnen, dass wir es mit einer universellen Geschichte aus einer technologisch pervertierten Zukunft zu tun haben. Ein italienischer Regisseur besetzt einen mexikanischen Hauptdarsteller und zwei weibliche Stars des europäischen Arthouse-Kinos. Das Resultat: ein cineastischer Europudding der prätentiösen Art.

Politisches Festival-Kino

Berlinale 2024 (3)


Krieg in der Ukraine

Die Berlinale versteht sich als ein politisches Festival, wobei oft unklar bleibt, was damit eigentlich gemeint ist. Was macht einen Film zu einem politischen Film? Gerne wird dafür ein weit gefasster Begriff von Politik bemüht, der im Spielfilm schwer zu fassen ist. Anders sieht es im Dokumentarfilm aus.

Der Krieg in der Ukraine ist seit dem vergangenen Jahr ein prominentes Thema in Berlin. Zwei bemerkenswerte, von Arte in der Reihe „Generation Ukraine“ coproduzierte Filme, fanden große Aufmerksamkeit. „Intercepted“ (Abgefangen, Regie: Oksana Karpovych, Kanada, Frankreich, Ukraine 2024) protokolliert Nachrichten russischer Soldaten in ihre Heimat. Das ist verstörend. Allerdings geben Szenen, in denen gezeigt wird, wie korrekt russische Kriegsgefangene in der Ukraine behandelt werden, dem Film eine allzu propagandistische Schlagseite. Die Ökumenische Jury verlieh ihm eine Lobende Erwähnung.


Viel differenzierter gerät dagegen das autobiographische Portrait von Svitlana Lishchynska, die in ihrem Dokumentarfilm „A Bit of a Stranger“ (Etwas von einem Fremden, Ukraine, Deutschland, Schweden 2024), mehrere Generationen von Frauen ihrer Familie portraitiert. Die Regisseurin wächst in den 1970er Jahren in Mariupol auf. Sie heiratet, bekommt eine Tochter und geht nach Kyjiw, wo sie beim Fernsehen arbeitet. Alexandra, die Tochter, wächst bei der Großmutter Valentina auf, ihre Muttersprache bleibt Russisch, während die Mutter sich in Kyjiw an Ukrainisch als Alltagssprache gewöhnt. Nach Ausbruch des Kriegs und dem russischen Angriff auf Mariupol kommen die Großmutter und ihre Enkelin, die inzwischen selbst eine kleine Tochter hat, nach Kyjiw. Alexandra geht schließlich mit ihrem Mann nach London, wohin ihr am Ende des Films die Großmutter folgt.

Mit alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Film die Hochzeit der Großmutter wie auch der Autorin während der Sowjetzeit. So gewinnt das intime Familienportrait eine historische Dimension. Beiläufig werden die gesellschaftlichen Unterschiede und Sprachgrenzen eines multikulturellen Landes sichtbar, in dem zwei Sprachen gesprochen werden, Russisch und Ukrainisch.

Palästinenser im Westjordanland

Es war zu erwarten, dass auch der Gaza-Krieg im Programm der Berlinale präsent sein würde. Der palästinensische Dokumentarfilm „No Other Land“ (Kein anderes Land, Regie: Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor, Palästina, Norwegen 2024) fand eine enorme Resonanz, und es wurde von vielen beklagt, dass der Film nicht im Wettbewerb, sondern in der Nebenreihe Panorama gezeigt wurde, wo er den Publikumspreis gewann.


Fünf Jahre lang haben der Palästinenser Basel Adra und der Israeli Yuval Abraham die Vertreibung der Bewohner mehrerer Dörfer im Westjordanland mit der Kamera dokumentiert. 2019 entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Menschen in der Umgebung von Masafer Yatta ihre Häuser verlassen müssen, weil dort ein Panzerübungsplatz der israelischen Armee (IDF) eingerichtet werden soll. Bulldozer rücken an, um die die Häuser, Ziegen- und Hühnerställe der dort seit Generationen lebenden Bauern niederzureißen. Nachts bauen die Bewohner ihre Häuser provisorisch wieder auf, am nächsten Tag werden sie wieder abgerissen. Wer gegen die Maßnahmen der Armee demonstriert, wird verhaftet. Ein Mann wird angeschossen und bleibt querschnittsgelähmt.

Die Autoren filmen als Zeugen aus unmittelbarer Nähe, dabei entsteht die Chronik einer „stillen ethnischen Säuberung", wie es Basel Adra in der Diskussion formulierte. Schließlich stellt sich heraus, dass die Einrichtung des militärischen Sperrgebiets nur ein Vorwand war, um die palästinensischen Bewohner zu vertreiben und israelische Siedlungen zu errichten. Im aktuellen Epilog nach dem 7. Oktober sieht man wie bewaffnete Siedler die Einwohner bedrohen und zur Flucht zwingen. Am Beispiel des Dorfes Masafer Yatta wird die systematische Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland dokumentiert. Seit Beginn des Gaza Kriegs mit zunehmender Gewalt von militanten Siedlern betrieben, militärisch unterstützt von der israelischen Armee.

Preisverleihung und Bilanz des Festivals

Berlinale 2024 (4)


Seit Jahren ist die Berlinale bekannt, man könnte auch sagen, berüchtigt dafür, möglichst schräge Filme mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen. Der letzte Gewinner, der auch den Weg ins Kino fand, war 2017 „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi. Seitdem hat man den Eindruck, dass es vor allem ideologische Kriterien waren, nach denen die Preise auf der Berlinale vergeben wurden.

Jetzt also „Dahomey“, in den Pressemeldungen allgemein als „Raubkunst-Doku“ bezeichnet. Die senegalesisch-französische Regisseurin Mati Diop, deren Spielfilmdebüt „Atlantique“ vor fünf Jahren in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, dokumentiert die Rückführung von geraubten Holzstatuen aus dem damaligen Königreich Dahomey, die Ende des 19. Jahrhunderts von der französischen Kolonialmacht nach Frankreich gebracht wurden. 2021 wurden 26 Objekte aus dem Pariser Musée du quai Branly an das westafrikanische Benin zurückgegeben. Wir sehen, wie Präsident Patrice Talon in einer pompösen Zeremonie die Kunstwerke in Empfang nimmt. Dass Talon dank Korruption einer der reichsten Männer im subsaharischen Afrika ist und die Opposition im Gefängnis verschwinden lässt, all das interessiert Mati Diop nicht.


Für ihre Dokumentation hätte eine Länge von 30 Minuten locker gereicht, aber Diop schafft es, den Film auf 67 Minuten auszuweiten und surreal zu überhöhen. Kaum dass die Statuen in Holzkisten verstaut sind, beginnt Nr. 26 mit verfremdeter Monsterstimme einen Monolog über die Zeit im Pariser Museum und die Rückkehr nach Afrika. Autor und Sprecher der streckenweise unfreiwillig komisch klingenden Geistertexte ist der haitianische Schriftsteller Makenzy Orcel.

„Dahomey“ traf in Berlin auf ein geteiltes Echo. Während die Einen seine poetische Qualität und Relevanz in der aktuellen Debatte um Raubkunst hervorhoben, fanden andere den Film überlang und wenig originell. Mit einem Plädoyer für die Restitution von Raubkunst rennt man heute offene Türen ein und kann sich des allgemeinen Beifalls sicher sein. Aber muss es dafür einen Goldenen Bären geben? So bleibt die Vermutung, dass schon wie im vergangenen Jahr bei Nicolas Philiberts Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“, weniger die filmische Qualität als vielmehr die Relevanz des Sujets gewürdigt wurde.

Der Darstellerpreis für Sebastian Stan in „A Different Man“ lässt auf ähnliche Motive schließen. Seine Verwandlung von einem physisch entstellten Mann, der unter Neurofibromatose leidet, zum attraktiven Frauenschwarm bedurfte keiner großen schauspielerischen Leistung. Oder sollte hier das Thema ‚Behinderung im Film‘ gewürdigt werden? Cillian Murphy wäre für seine Rolle in „Small Things Like These“ ein geeigneterer Anwärter gewesen. Dass Emily Watson im gleichen Film für ihren 5-Minuten-Auftritt als unerbittliche Mutter Oberin den Preis als beste Nebendarstellerin erhielt, passt zur absurden Logik dieser Preisvergabe. Ähnlich wie bei „Pepe“, dem sprechenden Nilpferd, dessen Weg von Südwestafrika nach Südamerika wir über zwei Stunden verfolgen dürfen. Warum es für den Film von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der wie eine Bildercollage wirkt, ausgerechnet den Regiepreis gab, bleibt ein Rätsel.

Ebenfalls rätselhaft, dass ein großartiger Film wie Andreas Dresens Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ bei der Preisvergabe leer ausging. Wenigstens ein Darstellerpreis für Liv Lisa Fries (nicht möglich, da im Regelwerk der Berlinale für Schauspieler nur noch ein Unisex-Preis vorgesehen ist) oder eine Auszeichnung für das beste Drehbuch für Laila Stieler wären angemessen gewesen. Dass Matthias Glasner mit dem Drehbuchpreis für sein gnadenloses Familiendrama „Sterben“ bedacht wurde, ist nachvollziehbar, wenngleich der Film mit einer Länge von drei Stunden die Geduld der Zuschauer einigermaßen strapaziert.

Zwei Preise gab es für den iranischen Beitrag „Keyke mahboobe man“ (My Favourite Cake) von Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha. Die tragikomische Geschichte einer Witwe, die sich in Teheran auf die Suche nach einem Mann macht und einen kurzen Augenblick später Liebe erlebt, war der Favorit der Kritiker und wurde sowohl von der Ökumenischen Jury wie von der internationalen Filmkritik (FIPRESCI) prämiert.


Zum Eklat kam es bei der Preisverleihung, als der amerikanische Regisseur Ben Russell, der für den Dokumentarfilm „Direct Action“ ausgezeichnet wurde, mit einer Kufiya (vulgo: Palästinensertuch) auf die Bühne kam, von „Genozid“ in Gaza sprach und zur Solidarität mit den Palästinensern aufrief. Neben dem Publikumspreis in der Reihe Panorama gewann der palästinensische Film „No Other Land“ auch den Hauptpreis als bester Dokumentarfilm. In seiner Dankesrede sprach der Filmemacher Basel Adra über seine ambivalenten Gefühle: „Es ist schwer für mich zu feiern, während in Gaza gerade zehntausende Menschen meines Volkes getötet werden.“ Sein israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham äußerte sich folgendermaßen: "Basel und ich sind gleich alt. Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser…Ich lebe unter ziviler Justiz, Basel unter Militärverwaltung. Wir leben 30 Minuten voneinander entfernt, ich darf wählen, Basel darf das nicht. Ich kann mich in meinem Land frei bewegen. Basel ist wie Millionen Palästinenser eingesperrt unter der Besatzung im Westjordanland. Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit, muss ein Ende haben.“ Das Publikum im Saal reagierte mit großem Applaus.

Genau einen Tag später brach ein medialer Sturm der Entrüstung los, ausgelöst durch einen Bericht des israelischen Senders Kan, der von einer „antisemitischen Rede“ Abrahams sprach. Die renommierte israelische Tageszeitung Ha’aretz schreibt dazu: “Dieses Framing (Ettikettierung) durch Kan entspricht der Atmosphäre des Mundtotmachens, der Selbstzensur und Verfolgung aller, die es wagen, das israelische Regime zu kritisieren. Genauer gesagt, derjenigen Israelis, die gegen die Besatzung opponieren…Was ist so beängstigend an Abrahams Worten? In weniger als einer Minute hat er eine Situation beschrieben, die von den meisten Israelis geleugnet wird, oder schlimmer noch, deren sie sich überhaupt nicht bewusst sind.“

Wie auf ein Stichwort wurden auf einmal die Preisverleihung und die gesamte Berlinale als antisemitisch geschmäht. Der israelische Botschafter Ron Prosor sprach von „antisemitischen und israelfeindlichen Äußerungen“, der Zentralrat der Juden forderte Konsequenzen für die Kulturförderung. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von „Israelhass“ und kündigte eine Untersuchung an, während die Festivalleitung sich von den Äußerungen der Preisträger schriftlich distanzierte.

Angesichts der medialen Empörung trat die Frage nach der künstlerischen Bilanz dieser Berlinale völlig in den Hintergrund. Immerhin war es dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian gelungen, Martin Scorsese nach Berlin zu locken, wo ihm ein Ehrenbär überreicht wurde. Ansonsten, ein schwacher Wettbewerb, der noch schwächer ausfiel als in den vergangenen Jahren, hilflose Preisentscheidungen und verschwommene Abgrenzungen zwischen den einzelnen Sektionen des Festivals. Im nächsten Jahr wird es kein Führungsduo mehr geben und die Amerikanerin Tricia Tuttle die alleinige Leitung der Berlinale übernehmen. Man darf gespannt sein.

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