Johanna Haberer, Mitglied der Ökumenischen Jury, und INTERFILM-Mitglied Peter Paul Huth berichten über das Festival de Cannes 2024. Foto: "All We Imagine as Light" von Payal Kapadia, Grand Prix der internationalen Festivaljury

Artikel in diesem Dossier

Ein Gang durch das Innere der Welt

Bericht zur Arbeit der Ökumenischen Jury in Cannes 2024. Von Jurymitglied Johanna Haberer


Das Filmfest in Cannes mit den glitzernden Stars der Leinwand, den visionären Regisseuren und Regisseurinnen, dem roten Teppich, den spektakulären Garderoben und mit der jährlich wechselnden Jury aus prominenten Filmschaffenden ist weltberühmt. Gestern sind die 77. Filmfestspiele in Cannes mit der Verleihung der Preise zu Ende gegangen.

Die Liste der Preisträgerinnen wurde über den gesamten Globus hinweg in allen Nachrichten bekanntgegeben.

Weniger bekannt ist, dass an allen Orten der großen Filmfestivals eine ökumenisch und international besetzte Jury aus allen Kontinenten und christlichen Konfessionen zusammenkommt, um die Visionen der Filmschaffenden aus einer Perspektive der Menschenwürde, der Bilder vom Menschen, der Gemeinschaft und Solidarität zu betrachten und die Frage zu stellen, welche Herausforderungen für die Gegenwart die Filme artikulieren und welche Zeichen von Hoffnung sie setzen.

Ein Filmfestival ist wie ein Gang durch das Innere der Welt. Im Jahr 2024 und im fünfzigsten Jahr der Ökumenischen Jury in Cannes waren es besonders die Filme, die von jungen Menschen erzählen, die die Ökumenische Jury fesselten: von der Kraft, die Heranwachsende heute brauchen, um in ihrem oft prekären, ignoranten oder autoritären Umfeld einen Halt und eine Perspektive zu finden.


Zu nennen sind da aus dem Wettbewerb die Geschichte des 19jährigen Mädchens Liane (sensationell gespielt von Malou Khebizi) in „Diamond brut“ (Frankreich 2024), die, bewahrt von ihrem naiven Glauben an ihre Schutzheiligen und überzeugt von ihrer strahlenden Zukunft, sich aufmacht, eine Influencerin auf Instagram zu werden. Alles, was Eltern von jungen Frauen zum Wahnsinn treibt - knappste Klamotten, aufgeklebte Wimpern und Fingernägel, aufgeblasene Lippen und halsbrecherische High Heels - setzt sie unbeirrbar ein, um ihr Ziel zu erreichen: nämlich gesehen zu werden von der Welt. Und das gelingt ihr, ohne sich dabei korrumpieren, verführen oder verkaufen zu lassen in dem eindrucksvollen Film der jungen französischen Regisseurin Agathe Riedinger.


Auch die 12jährige Bailey (grandios glaubhaft gespielt von Nykiya Adams) in dem Film „Bird“ der englischen Regisseurin Andrea Arnold kämpft mit dem Erwachsenwerden in einer Welt, in der jeder und jede sich nur für sich selbst interessiert. Ihr immer noch jugendlicher Vater, der zwei seiner Kinder in einem besetzten Haus in einer englischen Vorstadt aufzieht, will seine Freundin heiraten. Ihr großer Bruder gehört einer Bande an und schwängert seine 14jährige Freundin. Ihre Mutter lebt mit ihren anderen drei kleinen Geschwistern zusammen, die Bayley vor deren neuem Lebensgefährten, einem gewalttätigen Schläger, immer wieder beschützen muss. Sie droht unter dem Übermaß an Gleichgültigkeit und Verantwortung zu zerbrechen, bis ihr ein merkwürdiger Mann (glänzend gespielt von Franz Rogowski) begegnet, der sie - wie eine besondere Art Schutzengel - wahrnimmt und in ihrer Schönheit und Kraft erkennt.

Bayley verwandelt sich in dieser magischen Woche, die der Film sie begleitet und in der ihr die Welt neu begegnet, von einer missmutigen und verunsicherten Pubertierenden in eine selbstbewusste junge Frau, die am Ende mit den verstreuten Teilen ihrer prekären Familie ein fröhliches Hochzeitsfest feiert.


Vom Gesehenwerden eines jungen Menschen handelt auch der rumänische Film „Trei kilometri până la capătul lumii“ (deutsch etwa: „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“) von Emanuel Parvu. Der 17jährige Adi ist in einem abgelegenen Dorf im Donaudelta aufgewachsen und in den Ferien gerade zuhause bei seinen durchaus liebevollen Eltern, die sich finanziell krummlegen, um ihm ein Studium in der Stadt zu finanzieren. Nach einem Diskobesuch wird er von zwei Dorfjugendlichen in einer kurzen, intimen Szene mit einem anderen Jungen, einem Touristen, beobachtet und daraufhin übel zusammengeschlagen.

Das dörfliche Umfeld, die Eltern, der Dorfpolizist, der orthodoxe Priester, sie alle müssen im Laufe des Filmes begreifen, dass Adi ein schwuler Junge ist, der weder durch gutes Zureden noch durch Strafen oder gar Exorzismen „normal“ werden kann. Sie weigern sich aber, diesen Jungen neu zu sehen, ihn zu verstehen und seine Würde zu verteidigen. Erst das notfallmäßig von der besten Freundin Adis gerufene Sozialamt macht Adis Alptraum ein Ende.

Der unwillentlich geoutete Adi wird von allen ihn umgebenden Erwachsenen verkannt, verraten und verkauft. Als er wieder zum Studium abreist, sind die vertrauten Beziehungen zu den Eltern und den dörflichen Institutionen zerbrochen. Er kehrt seiner Familie und dem Dorf den Rücken.

Auch dieser Film entführt in eine andere Welt, an die Grenzen Osteuropas, wo sich ein konservatives Familienbild und eine unaufgeklärte Religion gegenseitig verstärken und einen neuen Blick sogar auf den liebsten Menschen unmöglich machen.

Keiner dieser Filme, die von jungen Menschen handeln, die auf der Suche nach Orientierung und Liebe sind, sind von der offiziellen Festivaljury mit einem Preis versehen worden. Sie konnten offenbar nicht mithalten mit den publikumswirksamen und schrillen Stories des internationalen Wettbewerbs, zum Beispiel von einer Sexarbeiterin, die sich in einen russischen Oligarchensohn verliebt („Anora“ ausgezeichnet mit der Goldenen Palme) oder der schmissigen Geschichte von einem mexikanischen Drogenboss, der eine Frau wird, damit aus seiner kriminellen Vergangenheit erlöst wird und dann an einer Versöhnung mit seinen Opfern arbeitet („Emilia Perez“ von Jacques Audiard, ausgezeichnet mit einem gemeinsamen Preis für die weiblichen Schauspielerinnen).

Auch die Ökumenische Jury hat dann schließlich einen anderen Film ausgezeichnet.

„The Seed of the Sacred Fig“ (deutsch: Der Samen der heiligen Feige) ist der Film des iranischen Regisseurs und Autors Mohammad Rasoulof.


Vor etwa zwei Wochen wurde er im Iran zu acht Jahren Haft mit fünfzig Peitschenhieben verurteilt und ist daraufhin zu Fuß übers Gebirge geflohen. Den Film, der im Geheimen gedreht wurde, hat er einem Freund mitgegeben. Die Endbearbeitung fand schließlich in Hamburg statt. Rasoulof konnte an der Premiere am letzten Tag des Festivals persönlich teilnehmen. Die Fotos seiner beiden Hauptdarsteller hielt er in die Kameras, sie wurden an der Ausreise gehindert.

Auch dieser Film nimmt die Perspektive junger Menschen ein. Der Film erzählt die Geschichte eines Ermittlungsrichters im gegenwärtigen Iran, der nach einem Karrieresprung jeden Tag Todesurteile gegen die für die Freiheit demonstrierenden jungen Menschen verhängt. Zuhause beobachten seine Töchter im Netz die Liveberichterstattung über die Demonstrationen und müssen miterleben, wie die beste Freundin der Älteren von Soldaten mit Schrotmunition ins Gesicht geschossen wird. Die Realitäten des Vaters und seiner Töchter beginnen auseinanderzufallen, und – nachdem seine Pistole verschwindet – beginnt der Vater gegen die Frauen in der eigenen Familie zu ermitteln.

Hart ausgedrückt, war dies der wichtigste Film auf einem Festival, auf dem es sich schwerpunktmäßig um die Abschiedsvorstellungen alter weißer Regisseure handelte (Frank Coppola mit „Megalopolis“, Paul Schrader mit „O Canada“ und David Cronenberg mit „The Shrouds“). Oder es ging um das Thema der weiblichen Attraktion und des Schönheitsterrors (z.B. „Parthenope“ von Paolo Sorrentino oder „Substance“ von Coralie Fargeat).


Die Jury gab ihren Preis an den Film, der die Metapher vom Samen der Feige als das Bild einer Revolution junger Frauen und Männer in den Raum stellt, die schließlich die patriarchalische und konservative religiöse Garde ablösen wird.

Die Begründung der Jury lautete:

Wenn Religion mit politischer Macht und dem Patriarchat verknüpft ist, kann sie die intimsten Beziehungen und die Würde des Einzelnen zerstören, wie dieses iranische Familiendrama zeigt. Die Jury war beeindruckt von der reichen Symbolik des Films, seinem mutigen und hoffnungsvollen Ende, seinen humorvollen Momenten und seiner herzzerreißenden Spannung. Die Subtilität und Nüchternheit seiner dramaturgischen und filmischen Gestaltung lassen ihn zu einer Metapher für jede autoritäre Theokratie werden.

Den Preis für sein Lebenswerk erhielt Wim Wenders, der in seiner Dankesrede betonte, dass gerade der Preis der Ökumenischen Jury für die Filmschaffenden eine besondere Ehre sei, denn dieser Preis würde jenseits aller kommerzieller Interessen der Filmindustrie den Geist der Zeit erspüren.

Cannes 2024 (1)

Eröffnung und erste Wettbewerbsfilme des Festivals


Wind und Regen taten der guten Stimmung am Abend der Eröffnung des Festivals von Cannes keinen Abbruch. Die von der Schauspielerin Camille Cottin klug moderierte „Ceremonie d’Ouverture“ ging glanzvoll über die Bühne, so wie man es von Cannes gewohnt ist. Eine souveräne Inszenierung, von der man in Berlin einiges lernen könnte. Neben der Präsentation der Jury war die Goldene Ehren-Palme für Meryl Streep der emotionale Höhepunkt des Abends. Die 74jährige Ausnahmeschauspielerin erinnerte an ihren letzten Cannes Besuch vor 35 Jahren. „Damals hatte ich drei Kinder und dachte, jetzt bin ich zu alt für Hollywood und meine Karriere ist zu Ende.“ Glücklicherweise kam es anders und Meryl Streep schaffte es, sich als älter werdende Frau im Filmgeschäft zu behaupten.

Nachdem man vor zwei Jahren den ukrainischen Präsidenten Selenskyj live zur Eröffnung geschaltet hatte, sollte nach dem Wunsch des Festivalleiters Thierry Frémaux in diesem Jahr die Politik auf der Leinwand anstatt auf der Bühne oder der Straße stattfinden. Neben der Ukraine ist als heikles Konfliktthema seit dem 7. Oktober 2023 der Gaza Krieg hinzugekommen. Außerdem erlebt Frankreich gerade eine heftige #MeToo-Debatte, prominent vertreten durch die Schauspielerin Judith Godrèche, die mehreren Regisseuren sexuelle Übergriffe vorwirft. Aus den Reaktionen weiterer Betroffener hat sie den Kurzfilm „Moi aussi“ gestaltet, der zur Eröffnung der Reihe „Un certain regard“ gezeigt wurde.

Der offizielle Eröffnungsfilm „Le deuxième acte“ von Quentin Dupieux (außerhalb des Wettbewerbs) entpuppte sich als eine doppelbödige Komödie, die maßgeblich von ihren Stars lebt. Léa Seydoux, Louis Garrel, Raphael Quenard und Vincent Lindon agieren als Schauspieler in einem absurden Film und fallen immer wieder aus ihren Rollen. Die Dialoge sind wunderbar bösartig (jedenfalls im französischen Original) und politisch so inkorrekt, dass das englische Branchenblatt SCREEN angesichts solcher „transphobic, homophobic and #MeToo“ Dialoge fassungslos war. Es schien fast so, als ob Quentin Dupieux, der vom Drehbuch über Regie, Kamera und Schnitt den ganzen Film im Alleingang gestaltet hat, die aktuelle #MeToo Debatte ironisch auf die Spitze treiben wollte. Außerdem macht er sich über KI-gesteuerte Dreharbeiten und einen Avatar-Regisseur lustig, der den Schauspielern misslungene Szenen von der Gage abzieht. In Frankreich ist Quentin Dupieux längst ein Kultregisseur und Star. Es wird Zeit, ihn auch international zu entdecken.


Eine großartige Entdeckung war auf jeden Fall „Diamant brut“ (Rohdiamant), das der erste Spielfilm der Graphikerin und Fotografin Agathe Riedinger. Gleich mit ihrem Debüt in den Wettbewerb von Cannes eingeladen zu werden, war für die französische Regisseurin mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Die 19jährige Liane (eindrucksvoll und preisverdächtig: Malou Khebizi) lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer kleinen Schwester in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Fréjus und träumt von einer Karriere als Influencerin. In ernüchternden Bildern zeigt der Film die wenig glamouröse Kehrseite der Cote d’Azur, ein prekäres Leben zwischen enger Wohnung, betoniertem Flussbett und einer staubigen Motocross-Strecke. Dino (Idir Azougli), der in Liane verliebt ist, zeigt ihr einen verlassenen Rohbau als zukünftigen Ort ihrer gemeinsamen Träume.

Liane lebt von kleinen Diebstählen, sie klaut Parfüm, Earpods und Klamotten, die sie weiterverkauft. In einem Geschäft klaubt sie die Glitzersteine von einem Kleid und klebt sie an ihre High Heels. Ihr großer Traum ist die Teilnahme an einer Show im Reality TV namens „Miracle Island“, und tatsächlich wird sie zu einem Casting eingeladen.

Nach einer Brustvergrößerung wirkt sie wie eine Porno-Darstellerin, ist jedoch im Grunde unsicher und hatte noch nie einen Freund. Ständig fürchtet man als Zuschauer, dass ihr etwas zustößt und sie mit ihrer aufreizenden Erscheinung den falschen Männern in die Hände fällt.


Ähnlich prekären Verhältnisse begegnet man in „Bird“ von Andrea Arnold. Es ist dieses Milieu von unterdrückten Frauen und toxischen Männern, in das die englische Regisseurin immer wieder zurückkehrt. Die dunkelhäutige12jährige Bailey (Nkyia Adams) lebt mit ihrem weißen Vater und älteren Stiefbruder in einer vermüllten Wohnung irgendwo im Süden Englands. Es wird viel getrunken und geschrien. Der Film fängt damit an, dass der ganzkörpertätowierte Vater (Brian Keoghan) ihr eines Tages eröffnet, dass er seine Freundin heiraten wird, was bei Bailey auf wenig Begeisterung stößt.

Bei ihrer Mutter trifft sie ihre beiden kleineren Schwestern, ihren kleinen Bruder und den neuen Freund der Mutter, der bei jeder Gelegenheit ausrastet und gewalttätig wird.

Immerhin ist da noch die Titelfigur Bird, gespielt von Franz Rogowski, der auf der Suche nach seinen Eltern ist, deren Kontakt er vor Jahren verloren hat. Offensichtlich hat er die Zwischenzeit in Deutschland verbracht, worauf sein deutscher Akzent schließen lässt. Die Figur von Bird ist eine seltsame Mischung aus Schutzengel und Vogelmann, mit flatterndem Rock über der Hose. Dass ihm später sogar für einige Momente Flügel wachsen, unterstreicht seine Vogelnatur. Ohnehin steht er ständig auf Dächern und Mauern. Was bei „Diamant brut“ authentisch und spontan wirkt, erscheint bei „Bird“ konstruiert und symbolisch überladen. Wer weiß, vielleicht existiert dieser Birdman nur in Baileys Phantasie.

Auch der Schwede Magnus von Horn erzählt in „The Girl With the Needle” (Das Mädchen mit der Nadel) eine dramatische Frauengeschichte. Schauplatz ist Kopenhagen während des 1. Weltkriegs und in den Jahren danach. Karoline (Victoria Carmen Sonne), die als Näherin in einer Textilfabrik arbeitet, wird nach einer Affäre mit dem Direktor schwanger. Die erhoffte Heirat scheitert am Widerstand der tyrannischen Schwiegermutter. Sie trifft auf eine mysteriöse ältere Frau (Trine Dyrholm), die gegen Geld Babies an „gute Familien“ vermittelt. Das behauptet sie jedenfalls. Auch Karoline vertraut ihr das neugeborene Kind an und wird schließlich zu ihrer Assistentin. Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film, der frei nach dem wahren Fall einer Kindermörderin erzählt ist, hat die Anmutung eines düsteren Märchens und die Spannung eines Horrorthrillers. Die beängstigende Atmosphäre wird unterstrichen durch die authentischen Drehorte, historische Fabrikbauten, die Magnus von Horn in Lødz gefunden hat, wo er an der Filmschule studierte.

In den ersten Tagen erlebte man  in Cannes einen vielversprechenden Festivalauftakt mit eindrucksvollen weiblichen Protagonistinnen.

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Projektionen der Zukunft und Vergangenheit

Schrottkarren nach der Apocalypse

Mit besonderer Spannung wurde in Cannes „Furiosa: A Mad Max Saga“ (Out of Competition) erwartet. George Miller, Autor und Regisseur, gelingt es einmal mehr, Publikum und Kritiker für sich einzunehmen. Der fünfte Teil der Mad Max-Reihe ist angelegt als Prequel zu Millers „Fury Road“ von 2015. Erzählt wird die Jugend der weiblichen Heldin Furiosa. An die Stelle von Charlize Theron ist Anya Taylor-Joy getreten, die in der apokalyptischen Männerwelt des australischen Outbacks weibliches self empowerment praktiziert. Als Kind wird sie von einer grausamen Biker-Horde entführt und gerät in Gefangenschaft des ‚Schwarzen Dementus‘ (gespielt vom weißen Chris Hemsworth), des sadistischen „Herrschers der Bikerwelt“ (Ruler of Bikerdom), der ihre Mutter kreuzigen lässt, als sie verzweifelt versucht, ihre Tochter zu retten.

Furiosa gelingt es zu fliehen. Sie landet in der Albino Truppe des künstlich beatmeten Joe Immortan, der über die Wasser-Speicher der Zitadelle verfügt.

In der postapokalyptischen Welt der „Mad Max“-Filme ist jeder Tag aufs Neue ein Kampf ums Überleben. Die Ressourcen Wasser und Benzin sind knappe Güter, um die mit äußerster Brutalität gekämpft wird. Was man am meisten braucht, ist Benzin, um die zusammengeschraubten Schrottkarren und Vintage Bikes am Laufen zu halten. „Furiosa“ ist ein ultimatives Action Spektakel jenseits von Marvel-Helden und Sternenkriegern. Ehrliche Handarbeit Made in Australia. Mit über 300 Millionen australische Dollar Produktionskosten der bislang teuerste australische Film. Hier dürfen Männer noch Männer sein und unverhohlen ihre Neandertaler-Natur unter Beweis stellen. Doch am Ende ist es Furiosa, die konsequent den Plan ihrer Rache verfolgt und dafür sogar bereit ist, sich den Arm abzuhacken.

Megalomanie oder Rome Revisited

Mit ähnlicher Spannung wurde Francis Ford Coppolas Alterswerk „Megalopolis“ an der Croisette erwartet. Zwei Goldene Palmen, 1975 für „The Conversation“ und 1979 für „Apocalypse Now“, hat Coppola schon gewonnen, aber 30 Jahre lang keinen Film mehr gemacht, der größere Aufmerksamkeit fand. Inzwischen ist seine Tochter Sofia berühmter geworden als ihr Vater. „Megalopolis“ wurde als Wiederauferstehung und cineastisches Vermächtnis des heute 85jährigen angekündigt. Das Ergebnis ist, um es kurz zu sagen, ein ziemliches Debakel. Wohlmeinende Kritiker sprechen dagegen von einem Meisterwerk. Die französische Filmzeitschrift „Cahiers de Cinema“ sah schon eine weitere Goldene Palme leuchten.


Worum geht es? New York ist bei Coppola “New Rome”, das Neue Rom. „Ich wollte ein römisches Epos machen, das im modernen Amerika angesiedelt ist“, sagt der Regisseur und Autor. Ein Architekt mit dem klassischen Namen Cesar Catilina (Adam Driver)  - passenderweise mit einer klassisch römischen Frisur ausgestattet  - soll New York neu aufbauen und träumt von einer utopischen Stadt der Zukunft.

Sein Gegenspieler, der schwarze Bürgermeister Frank Cicero (Giancarlo Esposito), ist mit drängenderen Problemen als mit utopischer Stadtplanung beschäftigt ist. Außerdem gibt es noch den steinreichen Bankier Hamilton Crassus III (Jon Voight), Onkel des Architekten, ohne dessen Finanzierung in ‚New Rome‘ gar nichts läuft. Nach eigener Aussage wollte Coppola die Rollen der Catilinischen Verschwörung aus dem 1. Jahrhundert v. Christus umkehren. Adam Drivers Catilina ist bei ihm der Gute, Espositos Cicero der Korrupte. Ursprünglich sollte in den römischen Cinecittà-Studios gedreht werden, am Ende wurde der Film im Studio in Atlanta realisiert. Entsprechend künstlich wirkt die Szenerie, keine Anmutung von New York, alles sieht nach Kulisse aus, so z.B. wenn in der Anfangssequenz die Figur von Adam Driver auf dem Turm des Chrysler Buildings balanciert. Fast stürzt er dabei ab, doch er ist nicht nur ein genialer Architekt, sondern besitzt auch die Fähigkeit, die Zeit aufzuhalten. Superkraft wie in einem Marvel-Film.

Seit 40 Jahren hat Coppola am Drehbuch gearbeitet, wie es heißt,  wurde es dreihundertmal umgeschrieben und wirkt am Ende doch wie eine wirre Melange konfuser Ideen und pompöser Kommentare zur Zukunft der Menschheit. Eine Aneinanderreihung pseudophilosophischer Kalendersprüche und Lebensweisheiten. Alle möglichen Geistesgrößen werden zitiert, von Shakespeare bis Rousseau.

Coppola nennt als eine Quelle der Inspiration den Architekturroman „Fountainhead“ von Ayn Rand, einer Ikone der libertären Bewegung mit politisch rechter Tendenz. Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass in der negativen Darstellung des schwarzen Bürgermeisters Cicero und seines jüdischen Beraters Nush (Dustin Hoffman) ein rassistischer Unterton mitschwingt.

Um völlig unabhängig zu sein, hatte Coppola die Produktionskosten in einer Größenordnung von 120 Millionen Dollar aus eigener Tasche finanziert. Doch die Personalunion von Produzent, Autor und Regisseur war keine ideale Konstellation. Wie der „Guardian“ berichtet, verliefen die Dreharbeiten äußerst chaotisch, was man dem fertigen Film auch ansieht. Der Autor zitiert ein Mitglied des Teams mit den Worten: „Es klingt verrückt, aber es gab Zeiten, in denen wir herumstanden und uns fragten: ‚Hat der Typ jemals einen Film gemacht?‘“ Eine Aussage, die an den Kommentar des Kameramanns Gordon Willis erinnert, der mit Coppola den „Paten“ gedreht hat und kurz vor seinem Tod im Interview mit 3sat sagte, „Francis ist wie ein ewiger Filmstudent, voller verrückter und kreativer Ideen. Aber er weiß nicht, wie er sie umsetzen kann. Ich habe dann gesagt: ‚Das ist alles schön und gut, aber wo willst Du die Kamera hinstellen?‘“ Viele die an dem Film mitgearbeitet haben, sind überzeugt, dass es die Handschrift von Gordon Willis war, die den „Paten“ so außergewöhnlich gemacht hat.

Als filmisches Vermächtnis ist „Megalopolis“ in erster Linie ein Zeugnis megalomaner Selbstüberschätzung.

Die Lehrjahre von Donald Trump

Eine intelligente Art, sich filmisch mit New York und Stadtplanung zu beschäftigen, demonstriert „The Apprentice“ (Der Lehrling), der vierte Film des in Schweden lebenden Iraners Ali Abbasi. Vor zwei Jahren hatte er in Cannes mit „Holy Spider“ Furore gemacht, für den seine Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.


In „The Apprentice“ geht es um den jungen Donald Trump (Sebastian Stan), der von seinem Vater als „Killer“ erzogen wird, um im Leben wie im Bauunternehmen der Familie als Sieger zu reüssieren. Doch so weit ist Donald noch nicht. Als Handlanger muss er für seinen Vater in einem billigen Appartementhaus die Mieten eintreiben. Schließlich trifft er auf den gerissenen Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong), in dem er seinen Mentor findet. Cohn war als Kommunistenjäger an der Seite von Senator McCarthy aktiv und brüstet sich damit, die angeblichen Atom-Spione Julius und Ethel Rosenberg auf den elektrischen Stuhl geschickt zu haben. Jeremy Strong ist phantastisch in der Rolle als schwuler Lebemann und aggressiver Anwalt, der die New Yorker Justiz und Stadtverwaltung in der Tasche hat. Cohn bringt dem jungen Trump drei elementare Erfolgsregeln bei.

1. Gnadenlos angreifen,
2. Keine Verantwortung übernehmen, alles leugnen,
3. Niederlagen nicht anerkennen, alles als Sieg verkaufen.

Später wird der Lehrling als erfolgreicher Geschäftsmann diese Prinzipien dem Ghostwriter seiner Business-Philosophie „The Art of the Deal“ als ganz persönliches Erfolgsrezept präsentieren. Eigenschaften, die sich auch bei dem späteren Präsidenten wiederfinden, doch so weit reicht die Geschichte des Films nicht.

Sebastian Stan schafft es, Donald Trump nicht zu karikieren, sondern ihn so nuanciert darzustellen, dass er streckenweise ganz menschlich wirkt. Charakterzüge, die im Zuge seines Erfolgs immer mehr verschwinden, bis nur noch ein zynischer Erfolgsmensch ohne Moral übrigbleibt.

Während George Miller uns durch eine abgasgeschwängerte Recyclingwelt nach der Klimakatastrophe führt, gerät Francis Ford Coppolas Verknüpfung von römischer Antike und modernem New York selbst zur filmischen Apokalypse. Der iranische Schwede Ali Abbasi schafft es mühelos, mit seinem Portrait des jungen Donald Trump die beiden Altmeister in den Schatten zu stellen.

Cannes 2024 (4)

Transformationen


Vielleicht ist das Kino der ideale Ort, um Fragen fluider Identität ins Bild zu setzen. In aktuellen Debatten wird unter dem Label ‚gendergerechte Sprache‘ linguistische Sensibilität für partikulare Identitäten eingefordert. Andererseits werden in der ‚flüssigen Moderne‘ (Zygmunt Bauman) geschlechtsspezifische Grenzen aufgehoben. All das findet seinen Niederschlag im Kino, exemplarisch durchgespielt in drei französischen Filmen im Wettbewerb von Cannes.

Jacques Audiard ist einer der versiertesten Regisseure des französischen Kinos. Er scheut kein Risiko, jeder seiner Filme ist eine Überraschung. Mit „Dheepan“ (Dämonen und Wunder), der Geschichte eines tamilischen Flüchtlings in der Banlieue von Paris, hat er 2015 die Goldene Palme gewonnen.

Verdient hätte er sie auch für „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012), als er die prekäre Seite des Lebens an der Côte d'Azur auf die Leinwand brachte.

Sein neues Œuvre „Emilia Pérez“ klingt auf dem Papier einigermaßen absurd. Ein mexikanischer Drogenboss wünscht sich eine Geschlechtsumwandlung und sucht sich die Anwältin Rita (Zoe Saldana), um alles für ihn vorzubereiten. Das Ganze ist auch noch mit optischer Raffinesse inszeniert als ein Musical. Was verrückt klingt, funktioniert perfekt auf der Leinwand. „Emilia Pérez“ ist ein mitreißender Thriller, der in Mexiko gedreht wurde und absolut authentisch wirkt. Die Gesangs- und Tanzeinlagen fügen sich nahtlos in die dramatische Geschichte ein. Bevor der Kartell-Boss Manitas del Monte seinen eigenen Tod inszeniert, bringt er seine Frau und die beiden Kinder in der Schweiz in Sicherheit. Jahre später taucht er als Emilia Pérez, Schwester des Toten, wieder auf.

Die angebliche ‚Tante‘ kümmert sich liebevoll um die Kinder, während die etwas unterbelichtete Mutter Jessi (Selena Gomez) die Nächte mit ihrem neuen Liebhaber (Edgar Ramirez) verbringt. Eine Verbindung, die nichts Gutes verheißt.

Wie viel ist von Manitas del Monte in seiner weiblichen Inkarnation als Emilia Pérez geblieben? Das ist die zentrale Frage, die der Film auf überraschende Weise beantwortet. Vorher gründet Emilia eine Stiftung, die sich um die Suche nach den Opfern der Drogengewalt kümmert. Karla Sofía Gascón ist umwerfend in der Doppelrolle als Manitas del Monte und als Emilia Pérez. Auch Zoe Saldana folgt man atemlos auf ihren verschlungenen Wegen.

Bei den französischen Kritikern gilt „Emilia Pérez“ als großer Favorit für die Goldene Palme. Es wäre ein angemessener Preis für einen herausragenden Film.


Coralie Fargeat ist eine Generation jünger als Jacques Audiard. Vor sieben Jahren machte sie Furore mit ihrem Thriller „Revenge“, in dem eine Frau sich an ihren Vergewaltigern rächt. Jetzt hat sie den Wettbewerb von Cannes mit „The Substance“ aufgemischt, einer Body-Horror-Geschichte in der Tradition von David Cronenberg. Demi Moore spielt eine Fitnesstrainerin mit dem bezeichnenden Namen Elizabeth Sparkle, die im Fernsehen eine erfolgreiche Aerobic-Show präsentiert. Aber, mein Gott, sie ist schon über 50! Viel zu alt für den Sender. Ihr Chef, Dennis Quaid als Karikatur eines Quoten-Maniacs, wirft sie mit einem netten Abschiedsgeschenk raus. Elizabeth will die Demütigung nicht hinnehmen und lässt sich auf eine mysteriöse Verjüngungskur ein. Angesichts der schäbigen Location in einem Hinterhof ahnt man, dass hier Gefahren lauern. Mit Hilfe einer brutal schmerzhaften Injektion entsteigt dem Frauenkörper ihr verjüngtes Alter Ego. Die verführerische Schöne nennt sich Sue (Margaret Qualley) und übernimmt nach einem erfolgreichen Casting Elizabeths TV-Show, die jetzt unter dem Titel „Pump it up!“ läuft.

Einziges Handicap: die beiden Frauen müssen sich gegenseitig ihre Körpersäfte abzapfen, um zu existieren. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Aber wie Coralie Fargeat den sich entwickelnden Body-Horror inszeniert, das kann auch abgehärtete Filmkritiker aus dem Sitz hauen. Souverän setzt die Regisseurin die weiblichen Reize ihrer Protagonistinnen ein, um die Zuschauer zu ködern und anschließend nachhaltig zu schockieren. „The Substance“ ist ein Film, den man im Kino sehen muss, man kann ihn kaum angemessen beschreiben.

Demi Moore, die in ihrer Karriere immer wieder über ihren Körper definiert wurde, liefert eine uneitle Performance der Extraklasse. Margaret Qualley spielt ungeniert die körperliche Überlegenheit und Arroganz der Jugend aus.


Um eine existenzielle Transformation geht es auch in einem dritten französischen Film, „Marcello Mio“. Christoph Honoré, ein äußerst produktiver Autor und Regisseur, ist in Cannes kein Unbekannter und zum zweiten Mal in den Wettbewerb eingeladen. In „Marcello Mio“ schaut Chiara Mastroanni eines morgens in den Spiegel und blickt in das Gesicht ihres Vaters. Mit Perücke, schwarzer Brille, Hut und Anzug verwandelt sie sich in den Marcello von Fellinis Klassiker „Otto e mezzo“ (Achteinhalb) von 1963, in dem es ebenfalls um die Identitätskrise eines Künstlers geht. Chiaras Mutter (Catherine Deneuve) reagiert schockiert auf das neue Outfit ihrer Tochter, ebenso Chiaras Ex-Lover (Melvil Popaud), während ihr früherer Lebenspartner (Benjamin Biolay) eher gelassen damit umgeht. Nur ihr Casting-Partner (Fabrice Lucchini) ist völlig begeistert von der neuen Chiara, die darauf besteht, als Marcello angesprochen werden zu werden.

Im italienischen Badeort Fermia, wo sich schon Catherine Deneuve und Marcello Mastroanni entspannt haben, kommen alle Protagonisten in einem großen Finale zusammen. Man kennt sich und versöhnt sich.

„Marcello Mio“ ist ein leichtgängiger Familienfilm für Insider und Kenner der Pariser Filmszene. Nichts, worüber man länger nachdenken müsste, aber amüsant anzuschauen. Kein cineastisches Schwergewicht wie die Filme von Audiard und Fargeat, aber ein ironisches Spiel mit einem Gender- und Generationswechsel.

Vielleicht besitzt das französische Kino eine besondere Sensibilität für Fragen existenzieller Identität und den Wunsch nach einer Grenzüberschreitung. Anders als im Mainstream von Hollywood, wo ‚full frontal nudity‘ immer noch verpönt ist und Gewalt auf der Leinwand eher toleriert wird als Sex.

Cannes 2024 (5)

Melancholische Rückblicke


In Cannes liebt man die großen Namen des internationalen Autorenkinos und lädt sie gerne in den Wettbewerb ein. Paul Schrader machte 1976 Furore als Drehbuchautor des Kultfilms „Taxi Driver“, für den Martin Scorsese die Goldene Palme gewann. Schrader ist längst selbst ein renommierter Regisseur, der in den letzten Jahren wieder viel Anerkennung für seine Filme gefunden hat. „Oh, Canada“ heißt sein neues Werk, das er an der Croisette vorstellte. Richard Gere spielt einen krebskranken Dokumentarfilmer, der Gegenstand einer filmischen Dokumentation wird. Michael Imperioli („Die Sopranos“) interviewt den legendären Filmemacher als letzte Gelegenheit vor seinem Tod.

Zum Entsetzen seiner Frau (Uma Thurman) nutzt der kranke Mann im Rollstuhl die Gelegenheit zu einer radikalen Lebensbeichte und entlarvt gnadenlos die Mythen seiner Karriere. In Rückblenden sehen wir, wie er seine schwangere Frau und seinen kleinen Sohn verlassen hat und eine Stelle als College-Dozent abbricht, bevor er sie überhaupt angetreten hat. Selbst die Geschichte seiner heroischen Flucht vor der Einberufung nach Vietnam entpuppt sich als nachträgliche Lügengeschichte. In Wirklichkeit hatte man ihn bei der Musterung als untauglich eingestuft.

In Rückblenden sind die Übergänge zwischen dem jungen Leonard Fife (Jacob Elordi) und dem alten Richard Gere fließend. Elegant übersetzt der Film den stream of consciousness der Erinnerung in produktiv irritierende Bilder. Richard Geres starke Präsenz erinnert an seine frühe Zusammenarbeit mit Paul Schrader in „American Gigolo“ (Ein Mann für gewisse Stunden) aus dem Jahr 1980. Beide Filme sind Studien in Einsamkeit, wobei in „Oh, Canada“ ein melancholischer, streckenweise aggressiver Ton überwiegt.


Eine ganz andere Art von Melancholie prägt den chinesischen Film „Caught by the Tides“ (Feng Liu Yi Dai). Der Regisseur und Co-Autor Jia Zhang-ke verbindet auf sehr persönliche Weise dokumentarische und fiktionale Elemente zu einer Bilanz der rasanten Veränderungen, die China in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt hat. Das Vergehen der Zeit, die wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche, denen die chinesische Gesellschaft ausgesetzt war, bestimmen seine filmische Karriere von den Anfängen bis heute. Der Film beginnt mit Aufnahmen aus der nordchinesischen Industriestadt Datong, die Jia Zhang-ke 2001 gedreht hat. Fahrräder bestimmen das Stadtbild, einfach gekleidete Arbeiterinnen mit bäuerlichen Gesichtern, die singen und rauchen. Man fühlt sich in ein anderes Jahrhundert versetzt.

Dann folgt der Film in lockerer Erzählweise der Tänzerin Qiao Qiao (Zhao Tao), die mit Bruder Bin, einem Barbesitzer, liiert ist. Bin verlässt die Stadt und verspricht ihr, sie nachzuholen, wenn er genug Geld verdient hat. Qiao Qiao reist ihm nach und trifft ihn am Yangtse, wo der gigantische Drei-Schluchten-Staudamm gebaut wird. Bin lässt sich auf Immobiliengeschäfte mit windigen Politikern ein, am Ufer werden ganze Städte zerstört, um Platz für den riesigen Stausee zu schaffen. Ein Ereignis, mit dem sich Jia Zhangke immer wieder in seinen Filmen beschäftigt hat. Frustriert trennt sich Qiao Qiao von ihrem Liebhaber und kehrt nach Datong in eine völlig veränderte Stadt zurück. Im Supermarkt wird sie von einem Roboter begrüßt, der sie mit Zitaten von Rousseau und Mark Twain beeindruckt, aber an der Gesichtserkennung scheitert.


In langen ruhigen Einstellungen dokumentiert Jia Zhangke den Preis, den die Menschen für die rasanten Veränderungen zahlen. Sie geraten in das Räderwerk einer gnadenlosen Modernisierung. Am Ende sind es die Frauen, die besser als die Männer in der Lage sind sich zu behaupten.

Jia Zhang-ke, der prominenteste Vertreter der sogenannten 6. Generation chinesischer Filmemacher, ist bekannt für seinen radikalen Realismus. Seine Filme dokumentieren das moderne China, dabei spannt er weite Bögen, um die Umbrüche der Gesellschaft deutlich zu machen. Seine Ehefrau, die Tänzerin und Schauspielerin Zhao Tao, die von der New York Times zu den „25 größten Schauspielern des 21. Jahrhunderts“ gezählt wurde, spielt seit mehr als 20 Jahren die Hauptrolle in seinen Filmen, so auch in „Caught by the Tides“.

2013 wurde Jia Zhang-ke in Cannes für „A Touch of Sin“ (Tian zhu ding) mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Eine weitere Auszeichnung wäre in diesem Jahr gut vorstellbar.

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Bilanz des Festivals


Das Festival von Cannes geht zu Ende und allenthalben wird spekuliert, wer in diesem Jahr die Goldenen Palme gewinnen könnte. Die New York Times sieht zwei Filme vorne, die überall als Favoriten gehandelt werden. Erstens Jacques Audiards mexikanischer Crime- und Drogen-Thriller „Emilia Pérez“, der als Musical alle Genregrenzen sprengt. Was den Film so spannend macht, ist die Tatsache, dass man nie weiß, wie die Geschichte weitergeht. Bei den französischen Kritikern ist „Emilia Pérez“ der absolute Favorit ähnlich wie im vergangenen Jahr der spätere Sieger „Anatomie eines Falls“. Als zweiten potentiellen Gewinner nennt die New York Times den Body-Horror-Thriller „The Substance“ mit Demi Moore und Margaret Qualley. Der Film von Coralie Fargeat mutet den Zuschauern und seiner Hauptdarstellerin Demi Moore einiges zu auf ihrem Horror-Trip zu einer vermeintlichen Verjüngung. Selten hat man eine solche in der medialen Glamourwelt angesiedelte radikale Auseinandersetzung mit dem Thema Schönheit und Verfall, Alter und Jugend gesehen.

Offensichtlich ist das Genrekino in Cannes wieder salonfähig geworden. Mit seiner Balance zwischen Sex und Crime ist auch Sean Bakers „Anora“ ein Genrefilm im weitesten Sinne. Was alle drei Filme verbindet, ist ein Sinn für schwarzen Humor, der das Kino-Erlebnis zu einem makabren Vergnügen macht.


Sozusagen in letzter Minute sind noch zwei preisverdächtige Titel hinzugekommen. Die indisch-europäische Coproduktion „All We Imagine as Light“ begeisterte die Kritiker und katapultierte den Film von Payal Kapadia im Ranking des SCREEN-Magazins auf den ersten Platz. Die indische Regisseurin, die vor drei Jahren in Cannes mit „A Night of Knowing Nothing“ den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen hat, beeindruckt in ihrem Spielfilmdebüt mit einer behutsam erzählten Geschichte von drei Frauen in Mumbai. Der Iraner Mohammad Rasoulof machte vor einigen Wochen Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er aus dem Iran geflohen war, um einer achtjährigen Haftstrafe zu entgehen. In Hamburg konnte er seinen Film “The Seed of the Sacred Fig” (Die Saat des heiligen Feigenbaums) fertigstellen. Rasoulof, der zuvor 2020 in Berlin den Goldenen Bären (und den Preis der Ökumenischen Jury) für "There is No Evil" gewann, greift die von jungen Frauen initiierten Proteste auf, die nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini 2022 den Iran erschütterten.


Filme, die mir gut gefallen haben, und die ich für preiswürdig halte, waren Paul Schraders „Oh, Canada“, Jia Zhang-kes „High Rises the Tide“ und Ali Abbasis „The Apprentice”. Bei so viel cineastischer Qualität ist es nicht übertrieben, von einem starken Jahrgang zu sprechen. Der Festivalleiter Thierry Frémaux sollte recht behalten, anstatt demonstrativer Solidaritätsadressen spielte sich in Cannes die Politik auf der Leinwand ab.

Natürlich gab es auch Enttäuschungen. Es waren vor allem prominente Regisseure, deren Filme die Erwartungen nicht erfüllten. Allen voran Francis Ford Coppola mit seinem megaloman überladenen Alterswerk „Megalopolis“. Aber auch David Cronenberg lieferte mit „The Shrouds“ (Die Leichentücher) nur einen schwachen Abglanz einstiger Größe. Vincent Cassel, mit entsprechender Frisur als Cronenberg-Avatar gestylt, eine amputierte Brust von Diane Kruger und ausgiebige Sexszenen, das war alles, was der Film zu bieten hatte.


Bei Paolo Sorrentino war es eher der Mangel an Sex, der seine Ode an seine Heimatstadt Neapel zur Enttäuschung werden ließ. Sein Film „Parthenope“ präsentiert das überirdisch schöne Model Celeste Dalla Porta als griechische Göttin Parthenope, die mythische Gründerin von Neapel. In den 1950er Jahren reinkarniert, entsteigt sie dem Meer und begegnet in Capri dem amerikanischen Autor John Cheever (Gary Oldman) der ihr prophezeit, dass die Welt so viel Schönheit nicht erträgt.


Der Grieche Yorgos Lanthimos entwirft in „Kinds of Kindness“ (Arten von Freundlichkeit) ein Triptychon von drei Kurzgeschichten, die mit den gleichen Darstellern besetzt sind. Was sie unterscheidet, sind vor allem das wechselnde Haarstyling von Jesse Plemons und Emma Stone. Wie schon bei „Poor Things“ ist Willem Dafoe wieder derjenige, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Trotzdem will das Ganze nicht zusammenpassen und lässt mit seinem artifiziellen Setting den Betrachter kalt.

Auffällig war in diesem Jahr die Häufung von Sexszenen. Man sah viel nackte Haut. Manchmal passend, manchmal unpassend. Auf jeden Fall besser als Gewalt. Vielleicht ist das Kino doch eine Wunschmaschine.

Cannes 2024 (7)

Wettbewerbsbeiträge aus dem Iran und Indien

Einen politischen Höhepunkt hatte man sich in Cannes für das Finale aufgehoben, den Film „The Seed of the Sacred Fig“ (Die Saat des heiligen Feigenbaums) von Mohammad Rasoulof. Unter den Bedingungen der iranischen Zensur wirkt Rasoulofs Film wie ein suizidales Projekt. Ein regimekritischer Regisseur wagt es, einen Film über die Protestbewegung nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam zu machen. Die Dreharbeiten fanden unter maximalen Vorsichtsmaßnahmen statt. „Wir fühlten uns wie Drogendealer und Gangster“, sagte er bei der Pressekonferenz, „wie ein Gangster des Kinos“.

Die Schauspielerin Serateh Maleki. ergänzte, dass sie bis kurz vor Drehbeginn nicht wusste, wer der Regisseur sein würde. Masha Rostami, die im Film ihre Schwester spielt, durfte das Drehbuch nur in einem sicheren Raum lesen. Es war ihr erster Film und sie war sofort begeistert von dem Projekt, denn sie hatte selbst an den Protesten teilgenommen und war verletzt worden.

Mohammad Rasoulof sagte, dass er sich bei der Geschichte an realen Personen orientiert hatte. Ein Gefängniswärter berichtete ihm, dass er nicht in der Lage sei, seiner Familie zu sagen, was er tagsüber mache und womit er sein Geld verdiene.


Eine ähnliche Situation findet sich in Rasoulofs Film. Iman (Misagh Zare) ist gerade zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht befördert worden, seinen Töchtern hatte er immer erzählt, dass er im Staatsdienst arbeitet. Er gerät in Konflikt mit seinen Vorgesetzten, weil er sich weigert, ein Todesurteil zu unterschreiben, ohne die Akte gelesen zu haben. Dann wird eine Freundin seiner Tochter bei einer Demonstration schwer verletzt und von den Mädchen und der Mutter versorgt. Dazwischen schneidet Rasoulof dokumentarische Handy-Videos von den Protesten ein.

Der Konflikt zwischen den Töchtern und dem Vater spitzt sich zu, als eine Pistole verschwindet, die er zum Schutz seiner Familie bekommen hat. Mit verbundenen Augen werden die Mädchen von einem Kollegen ihres Vaters verhört, um die ‚Schuldige‘ zu entlarven. Die repressive Gewalt des Regimes trifft auf einmal die eigene Familie.

Die Proteste nehmen zu, der Vater fürchtet um seine Karriere, wenn bekannt wird, dass seine Töchter involviert sind. Seine Frau (Soheila Golestani), die bislang loyal an seiner Seite gestanden hat, beginnt an ihm zu zweifeln. Die Familienmitglieder werden gegeneinander ausgespielt. Der Vater gerät in eine Spirale der Paranoia.

Rasoulofs Film demonstriert auf subtile Weise, wie ein repressives Regime auf die Unterstützung seiner Beamten und einer von den Medien desinformierten Bevölkerung angewiesen ist. Nuanciert entwickelt er das Psychogramm einer Familie, die an ihren inneren Widersprüchen zerbricht.

Mitten in den Dreharbeiten erfuhr Rasoulof, dass er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er wusste, dass ihm noch vier Wochen Zeit blieben bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts. Als dort das Urteil bestätigt wurde, wusste er, dass er das Land verlassen musste, wenn er nicht die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen wollte. Er hatte zwei Stunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, dann verließ er sein Haus.

„The Seed of the Sacred Fig” stieg auf Anhieb an die Spitze im Kritiker-Ranking und wurde sowohl von der Ökumenischen Jury wie auch der internationalen Kritik (FIPRESCI) ausgezeichnet. Der Film war plötzlich ein Favorit für die Goldene Palme und gewann schließlich den Spezialpreis des Wettbewerbs.

Am vorletzten Tag des Festivals gab es einen weiteren überraschenden Höhepunkt, den indischen Beitrag „All We Imagine As Light“. Es war der erste indische Film im Wettbewerb von Cannes seit 30 Jahren.


Die Regisseurin Payal Kapadia hatte vor drei Jahren mit "The Night of Knowing Nothing" den Preis für den besten Dokumentarfilm in Cannes gewonnen. Ihr Portrait von drei Frauen in der Metropole Mumbai ist geprägt von einem poetischen Realismus und zugleich von einem unsentimentalen Blick auf den Alltag der Menschen, die in der Millionenstadt zusammenkommen. Prabha (Kani Kusruti) und ihre jüngere Kollegin Anu (Devya Prabha) arbeiten als Krankenschwestern in einem Frauenkrankenhaus. Prabha wurde in einer arrangierten Ehe jung verheiratet, ihr Mann arbeitet seit Jahren in Deutschland. Ihre Einsamkeit versteckt sie hinter strenger Arbeitsdisziplin, zurückhaltend reagiert sie auf die Annäherungen eines Arztes, der Interesse an ihr zeigt. Anu ist lebenslustiger und umtriebiger, sie leiht sich von ihrer älteren Kollegin das Geld für die Miete und trifft heimlich einen gleichaltrigen Muslim (Hridhu Haroon), denn offiziell darf es keine Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen geben. Die dritte Protagonistin ist die Krankenhausköchin Parvaty (Chhaya Kadam), die als Witwe nach dem Tod ihres Mannes keine Ansprüche geltend machen kann und von Immobilienspekulanten aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Als sie zurück in ihr Dorf am Meer geht, helfen ihr die beiden Freundinnen beim Umzug.

Nichts Spektakuläres geschieht und doch ist der Film voll emotionaler Spannung. Die Regisseurin Payal Kapadia zeichnet in feinen Strichen das Portrait der riesigen Stadt, zeigt dokumentarisch die Menschenmassen auf den Straßen und in den Zügen. Zugleich sehen wir wie drei selbstbewusste Frauen sich in einer männerdominierten Gesellschaft behaupten, die ihnen nur geringere Recht zubilligt. Ein elegant inszeniertes Frauenpanorama, leichthändig und sozial präzise.

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Die Preisträger


2024 war das Jahr der Frauen in Cannes, was sich unübersehbar bei den Preisen niederschlug. Die Goldene Palme ging zwar an einen Mann, den Amerikaner Sean Baker, mit Mikey Madsen hat sein Film „Anora“ allerdings eine kämpferische weibliche Hauptdarstellerin. In seiner Dankesrede widmete Baker den Preis allen weiblichen Sexarbeiterinnen und plädierte für das Kino als den genuinen Ort, um Filme zu sehen. „Anora“ war auch von mir zum engeren Kreis der Favoriten gezählt worden. Wie auch Carolie Fargeats „The Substance“, der mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde. Die Horrorgroteske lebt von seinen außerordentlichen Protagonistinnen Demi Moore und Margaret Qualley.


Auch mein dritter Favorit, „Emilia Pérez“, für mich der beste Film des Wettbewerbs, wurde mehrfach ausgezeichnet, mit dem Preis der Jury wie auch dem Preis für die besten weiblichen Darsteller, der kollektiv an das Ensemble der Schauspielerinnen Adriana Paz, Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón und Selena Gomez ging. Eine Goldene Palme für den Regisseur Jacques Audiard wäre sicher kein Fehler gewesen.

Die größte Überraschung war wohl der Große Preis der Jury für die Inderin Payal Kapadia. Ihr Spielfilmdebüt „All We Imagine As Light“, ist die unsentimentale Geschichte einer Freundschaft von drei Frauen in Mumbai.


Der Amerikaner Jesse Plemons, der bislang vor allem in prägnanten Nebenrollen zu sehen war, von „Breaking Bad“ bis „Power of the Dog“, wurde als bester männlicher Darsteller für seine Vielseitigkeit in Yorgos Lanthimos' Episodenfilm „Kinds of Kindness“ ausgezeichnet. Diskutabel war der Regiepreis für den Portugiesen Miguel Gomes und sein schwarz/weißes Kolonialepos „Grand Tour“, in dem alle Figuren, ganz gleich, wo sie in Asien unterwegs sind, portugiesisch sprechen.

Bei Mohammad Rasoulofs „The Seed of the Sacred Fig“ hatte sich die Jury für einen Spezialpreis entschieden. Vorher war der Film schon mit dem Preis der Ökumenischen Jury und der Jury der internationalen Filmkritik (Fipresci) ausgezeichnet worden.

Die 77. Ausgabe von Cannes war eine der gelungensten seit Jahren. Es gab wenige Ausreißer und ein breites Spektrum an cineastischer Qualität. Kontroversen um Politik und #MeToo, die im Vorfeld heftig debattiert wurden, traten in den Hintergrund. Die Prognose von Festivaldirektor Thierry Frémaux sollte sich bestätigen, die entscheidenden Konflikte fanden auf der Leinwand statt.

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